Libretto: Le Villi

from Giacomo Puccini


Personen:
GUGLIELMO WULF [WILHELM] (Bariton)
ANNA, seine Tochter (Sopran)
ROBERTO, ihr Verlobter (Tenor)
ERZÄHLER (Sprechrolle)

CHOR
Bergbauern und Bergbäuerinnen, Willis, Geister



Vorspiel

ERSTER AKT

Eine Lichtung im Wald. Auf der rechten Seite steht Gugliemo's bescheidenes Haus. Auf der linken Seite ist ein Pfad, der über steiniges Gelände in den tiefen Wald führt. Eine kleine Brücke überspannt eine Vertiefung von der einen bis zur anderen Seite. Es ist Frühlig. Die Bäume blühen and überall sind Blumengirlanden aufgehängt. In der Nähe des Hauses steht ein gedeckter Tisch mit Essen, Flaschen und Gläsern. Guglielmo, Anna und Roberto sitzen am oberen Ende des Tisches

BERGLER
Hoch sollen sie leben, hoch sollen sie leben,
Hoch sollen sie leben, die Neuverlobten!

Anna und Roberto treten Arm in Arm nach vorne

BERGLER
Die alte Frau aus Mainz
Machte Roberto zu ihrem Erben!
Die Schätze, die sie aufhäufte,
Sind gar zahlreich!
So wird Roberto heute abend
Weggehen
Als armer Mann, wird aber zurückkehren
Als reicher, um dann seinen Liebling zu heiraten!
Hoch sollen sie leben, hoch sollen sie leben,
Hoch sollen sie leben, die Neuverlobten
Dreht euch, wirbelt herum und dreht euch!
Springt, nun springt, hüpft und dreht euch!
Die Musik pulsiert verzückt,
Der Tanz treibt uns voran!
Oh wie schnell die Stunden vergehen,
Während wir leichtfüssig tanzen!
Tanz ist der Rivale der Liebe,
Der das Herz klopfen lässt!
Dreht euch, wirbelt herum und dreht euch!
Springt, nun springt, hüpft und dreht euch!
zu Guglielmo
Hallo da, Vater Guglielmo!
Komm her und tanze auch!

GUGLIELMO
Na, warum nicht? Oh je, oh je!
Vielleicht bin ich alt, aber ich kann immer noch 'rumhüpfen!

galant fordert er ein Mädchen zum Tanz auf

BERGLER
Dreht euch, wirbelt herum und dreht euch!
Springt, nun springt, hüpft und dreht euch!

Während seine Freunde ihm applaudieren, tanzt Guglielmo mit seiner Partnerin hinaus. Alle anderen folgen ihnen. Kurz danach kehrt Anna mit einem Blumenstrauss zurück

ANNA
Wenn ich winzig wäre wie Ihr,
Schöne Blumen, dann könnte ich
Immer ganz nah' bei meinem Geliebten bleiben.
Dann würde ich ihm sagen:
"Ich denke immer an Dich!"
Dann könnte ich ihm sagen:
"Vergissmeinnicht!"
Ihr werdet ihm folgen, meine lieben Blumen,
Über Berg und Tal.
Ihr werdet meinem Liebsten folgen.
Ach, wenn nur der Name, den Ihr tragt,
Nicht falsch ist,
Dann sagt meinem Geliebten:
"Vergissmeinnicht!"

Sie will den Blumenstrauss in Robertos Tasche stecken

ROBERTO
kommt herein und sieht was Anna tut
Aha ich habe Dich erwischt!

ANNA
Du!

ROBERTO
nimmt den Blumenstrauss, küsst ihn und steckt ihn wieder in seine Tasche
Ich danke Dir, liebe Anna,
Aber ich hätte gern
Ein noch süsseres Andenken.

ANNA
Was?

ROBERTO
Ein Lächeln.
Anna schüttelt traurig den Kopf
Liebste Anna, Du darfst nicht traurig sein.
In ein paar Tagen bin ich wieder da.

ANNA
Ich gebe mir Mühe, nicht zu weinen,
Aber ich kann meine Traurigkeit nicht überwinden.
Böse Vorahnungen bedrücken mich.
Ich spüre, dass ich Dich nie wieder sehen werde.

ROBERTO
Anna!

ANNA
Letzte Nacht träumte ich, dass ich starb,
Während ich auf Dich wartete.

ROBERTO
Ach komm! Was für schreckliche Gedanken!
Denk lieber an die glücklichen Tage,
Die das Schicksal
Unserer Liebe bescheren wird!

ANNA
Aber liebst Du mich wirklich?

ROBERTO
Mein Engel,
Wie kannst Du an meine Liebe noch zweifeln?
Du warst es, die mit mir
Die Freuden, die Zärtlichkeiten der Kindheit teilte.
Deine Lieblichkeit und Tugend
Lehrten mich wie schön das Leben ist.
Ich war arm, aber Du entschlossest Dich,
Meine Liebe höher als die irgend eines reichen Mannes zu schätzen.
Ach, zweifle an Deinem Gott,
Aber nein, zweifle nie an meiner Liebe!
Ich liebe Dich!

ANNA
Süsse, zärtliche Worte,
lhr durchdringt mein trauriges Herz,
Und in den schlimmsten Augenblicken des Wartens
Mögt Ihr meinen Kummer mildern.
Süsse, zärtliche Worte,
Wie oft werden meine Lippen
Sie murmeln:
Ach, zweifle an Deinem Gott,
Aber nein, zweifle nie an meiner Liebe!
Ich liebe Dich!

Die Bergler kehren mit Gugliemo zurück

BERGLER
Nun schnell! Mach Dich schnell auf Deinen Weg!
Es ist schon Zeit, dass Du aufbrichst!
Ehe der fröhliche Sonnenstrahl
Verschwindet, musst Du auf dem Weg sein!

ROBERTO
Anna, sei tapfer!

ANNA
Ich spüre, ich werde sterben!

BERGLER
zu Roberto
Wir werden Dich
Bis zum Waldrand begleiten.

ROBERTO
zu Guglielmo
Lieber Vater, gib uns Deinen Segen!

GUGLIELMO
Dann kommt alle zu mir.
Anna and Roberto knien zu seinen Füssen: die anderen tun es Ihnen nach
Oh Engel Gottes, der Du Dich heute abend
Zum Himmel aufschwingst,
Trage dieses Gebet
Zum Throne des Herrn!

ANNA, ROBERTO UND GUGLIELMO
Möge jedem Pilger
Eine gute Reise beschert sein!
Möge jeder Liebestraum
Vor Enttäuschungen bewahrt bleiben.
Trage dieses Gebet
Zum Throne des Herrn!

Guglielmo umarmt Roberto, der dann Anna umarmt und danach jedem Bergsteiger die Hand schüttelt

ROBERTO
Vater, Anna, auf Wiedersehen!

ANNA, GUGLIELMO UND BERGLER
Auf Wiedersehen, Roberto, auf Wiedersehen!

Roberto geht in Begleitung einiger Freunde ab

INTERMEZZO

1. Teil: Verlassen

ERZÄHLER
Damals in der Stadt Mainz
Verzauberte eine Sirene Alte sowohl wie Junge.
Sie lockte Roberto zu einer unzüchtigen Orgie,
Und dort vergass er seine Liebe zu Anna.
In der Zwischenzeit, von einer unbeschreiblichen Angst gepackt,
Wartete das betrogene Mädchen auf ihn.
Aber sie wartete vergebens: als der Winter kam,
Schloss sie ihre Augen zum ewigen Schlaf.

Durch einen Vorhang sieht man, wie Annas Trauerzug Guglielmos Haus verlässt und die Lichtung überquert

FRAUEN
Wie eine gebrochene Lilie
Liegt sie in ihrem Sarg,
Ihr Gesicht so blass wie der Mondschein.
Oh reinste Jungfrau, ruhe nun in Frieden!

2. Teil: Der Hexensabbat

ERZÄHLER
lm Schwarzwald gibt es eine Sage,
Die man die Sage der Wilis nennt.
Und sie erfüllt alle untreuen Liebhaber mit Angst.
Wenn ein Mädchen ans Liebe stirbt,
Kommen jede Nacht die Hexen in den Wald
Zum Tanzen, um auf den ungetreuen Liebhaber zu warten.
Wenn sie ihm dann begegnen, lachen sie
Und tanzen mit ihm, bis er vor Erschöpfung stirbt.
Auch für Roberto sollte der verhängnisvolle Tag kommen.
In Lumpen, von der Sirene verlassen,
Entschloss er sich, zum Wald zurückzugehen,
Und heute nacht ist er zurückgekehrt.
Er kommt durch den Wald:
Die Wilis umwirbeln ihn in der frostigen Luft.
Vor Kälte und Angst zitternd
Ist er bereits mitten in dem dunklen Wald.

Während des zweiten Teils wird die Waldlandschaft des ersten Aktes wieder sichtbar, aber es ist Winter. Nacht. Die kahlen Bäume sind mit Schnee beladen. Der Himmel ist klar und voller Sterne: der Mond scheint auf die finstere Umgebung. Die Wilis kommen zum Tanz. Irrlichter gehen ihnen voraus. Sie erscheinen auf allen Seiten und schweben über der Szene

ZWEITER AKT

Der trauernde Guglielmo sitzt neben seiner Haustür

GUGLIELMO
Nein, es ist ausgeschlossen,
Dass seine Schuld nicht gerächt werden sollte.
Meine süsse Tochter lebte
Ruhig und gesegnet an meiner Seite,
Dann kam er
Und weckte mit seinen Worten
Die Sehnsucht nach Liebe in ihrem Herzen.
steht auf
Wer also, Schurke,
Bat Dich je um Deine Liebe?
Was haben wir Dir je
Grausames angetan,
Dass Du diesen Engel töten
Und meine letzten Tage
Mit solch grosser Traurigkeit beladen solltest?
Nein, es ist ausgeschlossen,
Dass eine so grosse Schuld ungerächt bleiben sollte.
Oh gesegnete Seele meiner Tochter,
Wenn die Sage der Wilis doch wahr wäre,
Erweis ihm nun nicht die gleiche Gnade wie damals,
Sondern erwarte ihn hier beim Sonnenuntergang.
Wenn ich nur wüsste, dass Du gerächt wärest,
Würde ich dankbar den letzten Tag des Lebens begrüssen.
Ach, vergib Herr, den erbarmungslosen Gedanken,
Der meinem blutenden Herzen entsprungen ist.

Er geht ins Haus

WILIS
hinter den Kulissen
Er kommt!
Anna! Anna! Anna!
Um den ihm bestimmten Tod zu finden!
Der Verräter nähert sich!
Schau! Hier kommt er!
Komm nun, verdammte Seele, eile.

Roberto betritt die Brücke

ROBERTO
für sich
Hier ist ihr Haus.
Oh Gott, welch schreckliche Nacht!
Unheimliche Stimmungen verfolgen mich.
Die Wilis: weg mit ihnen!
Sie sind Einbildungen!
verlässt die Brücke
Nein, die verhängnisvolle Rache der Wilis.
Verfolgt mich nicht!
Reue, Du alleine, plagst mich!
Höllenschlange!
Giftige Höllenschlange!
Meine qualvollen Gedanken
Kehren zu jenen glücklichen Tagen zurück,
Als der Mai voller Blumen war
Und für mich die Liebe blühte.
Dann tauchten traurige Geheimnisse
Meine Welt ins Dunkle,
Und nun ist in meinem Herzen
Nichts als Traurigkeit und Angst!
Vielleicht lebt sie noch!
er schaut sich Annas Haus an, zögert und läuft dann hin
Ich werde klopfen!
Er will klopfen, tritt aber zurück, als wäre er von einer geheimnisvollen Macht zurückgehalten worden
Wie es mich eben schauderte!
Ich konnte meine Hand
Nicht zu ihrer Tür heben!

WILIS
Komm her, verdammte Seele, eile!

ROBERTO
Mir ist, als hörte ich
Einen Grabgesang!
er kniet hin zum Gebet, scheinbar erschöpft
Oh, grosser Gott! Es ist das Ende
Meiner Reise, meines Schicksals.
Möge Vergebung mir noch
Einen einzigen Moment des Glücks bringen,
Dann will ich sterben.
springt auf
Ich kann nicht beten!
Ach, verdammt sei der Tag,
An dem ich dieses Dorf verliess!
Und verdammt sei Deine Schönheit,
O scheussliche Kurtisane!
Sei auf ewig verdammt. Auf Ewig verdammt!

WILIS
Eile! Eile! Eile!

ANNA
hinter den Kulissen
Roberto!

ROBERTO
Himmel!
Ihre Stimme! Sie ist nicht tot!

ANNA
erscheint auf der Brücke
Ich bin nicht mehr die Liebe.
Ich bin die Rache!

ROBERTO
fällt hin, während Anna sich ihm nähert
Grosser Gott!

ANNA
Erinnerst Du Dich an Deine Worte
Im Monat der Blumen?
"Du warst es, die mit mir
Die Freuden, die Zärtlichkeiten der Kindheit teilte.
Deine Lieblichkeit und Tugend
Lehrten mich wie schön das Leben ist.
Ach zweifle an Deinem Gott,
Aber nein, zweifle nie an meiner Liebe!"
Ich liebte Dich: Du verrietest mich.
Ich wartete: Du kamst nicht.
Doch welch furchtbare Qual,
Schweigend zu leiden!
Als alle Hoffnung aus meinem Herzen vertrieben war,
Tötetest Du mich!

ROBERTO
Ich vergass sie, ich verriet sie,
Und meinetwegen starb sie.
Welch furchtbare Qual
Werde ich erleiden müssen!
Mit Reue in meinem Herzen
Spüre ich, wie ich sterbe!

Roberto nähert sich Anna, als wäre er von einer unbekannten Macht getrieben. Fast glückt es ihm, die Faszination zu überwinden, doch gelingt es ihm nicht, und er läuft ihr entgegen. Anna öffnet ihre Arme und drückt ihn an sich. Die Wilis versammeln sich um das Paar, tanzen wie wild und verschwinden dann

GEISTER
hinter den Kulissen
Hier warten wir auf Dich, Verräter!
Von uns erwarte keine Gnade!

GEISTER UND WILIS
Ein Mann, der im Leben auf Liebe nicht hörte,
Wird im Tode keine Vergebung finden!
Verräter, wir erwarten Dich!
Dreh Dich! Spring! Dreh Dich! Spring!

Voller Angst eilt Roberto zu Guglielmos Tür, um dort zu klopfen. Er sieht, dass die Wilis ihn verfolgen und läuft in die andere Richtung, wo ihm Anna den Weg versperrt. Sie ergreift ihn erneut und führt ihn in einen wilden Tanz zwischen den anstürmenden Wilis

ROBERTO
fällt erschöpft zu Annas Füssen
Anna, Gnade!

ANNA
während sie verschwindet
Du bist mein!

GEISTER UND WILIS
Hosianna! Hosianna! Hosianna!