Synopsis: Schneewittchen

from Heinz Holliger


Vorbemerkung

Jeder Versuch, Walsers «Schneewittchen» in einer Inhaltsangabe zu fassen, stellt zwangsläufig eine Abfolge und damit eine Kausalität her, die im Stück nicht vorgegeben ist. Vergangenes und Gegenwärtiges, Fiktives und Wirkliches vermischen sich unauflöslich ineinander und auch das Märchen, auf das sich die Protagonisten berufen, kann nicht als eine gesicherte Wahrheit verstanden werden, sondern wird immer wieder neu interpretiert und hinterfragt. Die Sprache von Robert Walsers «Schneewittchen» ermöglicht in ihrer Vielschichtigkeit eine Fülle von Lesarten, doch jeder Versuch einer Festlegung muss sich jene Ermahnung gefallen lassen, die die Königin Schneewittchen gegenüber äussert: «Bedenk', dass du nicht richtig denkst».

PROLOG
Die Figuren des Spiels (Königin, König, Schneewittchen, Prinz. Jäger) stellen sich vor.

ERSTE SZENE
Das Märchenspiel beginnt mit einer Auseinandersetzung zwischen der Königin und Schneewittchen, welches der Stiefmutter die von ihr angezettelten und begangenen Mordversuche vorwirft. Die Mutter versucht, alles abzustreiten und bezichtigt das Märchen der Lüge. Gleichzeitig jedoch fordert sie Schneewittchen auf, zu vergessen.

ZWEITE SZENE
Der Prinz, der Schneewittchen von der Königin wegführt, ergeht sich in ausschweifenden Liebesbeteuerungen und -phantasien, Schneewittchen hingegen sehnt sich nach schweigendem Einverständnis. Unfähig, aufeinander einzugehen und dem Bild der glücklich Liebenden, wie es das Märchen suggeriert, zu entsprechen, lässt sich der Prinz nur allzuleicht vom Anblick einer erotischen Liebesszene zwischen der Königin und dem Jäger entflammen.

DRITTE SZENE
Schneewittchen sucht erneut das Gespräch mit der Mutter, nunmehr bereit, die Vergangenheit zu vergessen und ihr kindliche Liebe entgegenzubringen. Die Mutter reagiert misstrauisch und beschuldigt nun ihrerseits Schneewittchen, die Wahrheit zu verdrängen. Je rückhaltloser Schneewittchen ihr Vertrauen in die Güte der Mutter zu erkennen gibt, desto mehr fühlt diese sich bemüssigt, ihre Vergehen an der Tochter zuzugeben und schliesslich auch die Gründe für ihre Handlungsweise anzuführen.

VIERTE SZENE
Die Königin wirft dem Prinzen, der ihr seinen Sinneswandel, seine Liebe, offenbart, Unbeständigkeit vor und erinnert ihn an seine Liebespflicht Schneewittchen gegenüber. Sie fordert den Jäger auf, mit Schneewittchen nochmals jene Szene im Wald zu spielen, in der er sie bedrängte. Als der Jäger Schneewittchen - wie im Märchen - verschont, greift die Königin in das Spiel ein und befiehlt ihm, aus der Rolle zu fallen und das Mädchen zu töten. Der Prinz bezichtigt die Königin der Hinterlist und will Schneewittchen zu Hilfe eilen. Die bedrohliche Situation löst die Königin lachend mit den Worten «Es ist ja alles nur ein Spiel» auf.

FÜNFTE SZENE
Schneewittchen lässt der Gedanke nicht los, dass die Mutter sie mit Hass verfolgt. Erneut entspinnt sich eine Diskussion, in der sich die Königin bemüht, die Tochter zu beruhigen. Diese sehnt sich zu den Zwergen zurück, obwohl sie - wie sie zugibt - aus eigenem Antrieb zur Mutter zurückgekehrt ist. Wiederum verliert die Königin die Kontrolle über sich und ruft den Jäger herbei, den sie dazu auffordert, an ihrer Stelle Schneewittchen das «Spiel» zu erklären. Schneewittchen ist bereit, dem Jäger alles zu glauben, der Wort für Wort die Wahrheit des Märchens als nichtig erklärt. Schliesslich bittet er sie, die Königin, die vollends verstummt ist, mit einem Kuss zu versöhnen. Schneewittchen kommt der Aufforderung nach.

EPILOG
Trotz dieses Versöhnungszeichens bittet Schneewittchen den hinzukommenden König, den «noch immer nicht erstickten Streit» zu schlichten. Dieser weiss von keinem Streit zwischen Mutter und Tochter, interessiert sich aber für das Vergehen des Jägers. Schneewittchen verteidigt letzteren, überhaupt will sie von keiner Sünde mehr wissen. Obwohl die Königin gleichfalls die allgemeine Versöhnung vorantreibt, erinnert sie erneut die Schuldfrage. Schneewittchen unterbricht sie:

«Schweig doch, o schweig. Das Märchen nur
sagt so, nicht Ihr und niemals ich.
Ich sagte einmal, einmal so -
das ist vorüber.»