Libretto: Werther

from Jules Massenet


Personen:
WERTHER [23 Jahre] (Tenor)
ALBERT [31 Jahre] (Bariton)
Der AMTMANN [50 Jahre] (Bariton oder Bass)
SCHMIDT, Freund des Amtmanns (Tenor)
JOHANN, Freund des Amtmanns (Bariton oder Bass)
BRÜHLMANN, ein junger Mann (Tenor)
CHARLOTTE, Tochter des Amtmanns [20 Jahre] (Mezzosopran)
SOPHIE, ihre Schwester [15 Jahre] (Sopran)
KÄTHCHEN, ein junges Mädchen (Sopran)
Sechs KINDER, jüngere Geschwister Charlottes (Kindersopran):
FRITZ, MAX, HANS, KARL, GRETEL, CLARA

Einwohner und Einwohnerinnen des Marktfleckens Wahlheim;
Gäste; Musikanten; Ein Bauernjunge; Ein Bote



ERSTER AUFZUG

Das Haus des Amtmanns
bei Wetzlar, Juli 1772

Links das praktikable Haus. Innen ein altdeutsches Speisezimmer mit getäfelter Balkendecke; auf dem Buffet blanke zinnerne Teller und Kannen; ein lederner Lehnsessel, aus Holz geschnitzte Stühle, eine alte Standuhr mit Gehäuse aus Nussbaum. Eine Tür führt in Lottens Zimmer. Vor dem Hause eine praktikable Terrasse mit Laubwerk, zu welcher von beiden Seiten eine gangbare Holztreppe hinaufführt, die den Eingang ins Haus vermittelt. Ehe man letzteres selbst betritt, muss man einen gläsernen Vorbau passieren, durch welchen das Speisezimmer von aussen zu übersehen ist. Rechts der Garten. Im Hintergrunde eine kleine Tür mit freiem Ausblick, an welche sich ein lebendiger Heckenzaun anschliesst. Dahinter in einiger Entfernung die Häuser des Ortes und das Feld. Vorn ein Springbrunnen

Sobald der Vorhang aufgeht, sieht man den Amtmann auf der Terrasse unter seinen sechs kleineren Kindern sitzen; das Jüngste hält er auf den Knieen; er giebt ihnen eine Singlektion. Später erscheinen Johann und Schmidt, die an der Gartentür stehen bleiben und zuhören. (Der Kinderchor hinter der Hecke.) Allgemeines Gelächter der Kinder

AMTMANN
scheltend
Genug! Will man nicht einmal stille sein?..
Fangt wieder an! Nur nicht so greulich schrein!

DIE KINDER
singen laut und heftig
O Nacht, der Weihe Nacht!
Christus ward geboren,
Der zum Heiland Euch erkoren ...

AMTMANN
ärgerlich
Nein, nein! Ihr gebt nicht Acht!
Nicht so laut! Ich sags Euch immer!
Machts, wie Ihrs bei Lotte macht! ...
Alles hört sie ... dort im Zimmer.

DIE KINDER
sind beim Namen Lottens ganz still geworden. Sie nehmen das Weihnachtslied ernsthaft wieder auf
Heilige Nacht! Heilige Nacht!
Christus ward geboren,
Der zum Heiland Euch erkoren,
Hirten, Ihr von Israel!
Hoch vom Himmelszelt
Rauscht es wie von Hüterschwingen,
Und man hört die Englein singen
Durch die weite Gotteswelt:
Heilige Nacht! Heilige Nacht!

Johann und Schmidt treten in den Hof

JOHANN
Ein lieblicher Gesang!

SCHMIDT
Ein wunderhübsches Lied!

DIE KINDER
fröhlich herbeilaufend
Ach, Pate Schmidt! Herr Johann auch!

Johann und Schmidt küssen die Kinder

JOHANN
zum Amtmann
Das muss ich sagen!
Das heiss ich vorgesorgt, und zeitig, wie man sieht,
Ans Fest denkt Ihr bei guten Tagen.

AMTMANN
kommt herunter und schüttelt den Freunden die Hand
Willst Du Dich lustig machen, Freund? Nur zu!
Nicht Alle können Künstler sein wie Du!
Hier heissts: beizeiten angefangen!
Lehr Du Musik den unfolgsamen Rangen!

SCHMIDT
zu Sophie, die dazukommt
Sophie, grüss Gott! Gewiss ist Lotte auch zu Haus?

SOPHIE
macht einen Knix
Herr Schmidt, ja, sie ist da. Bei uns sähs traurig aus,
Wenn wir uns plagten nicht, wir beide!

JOHANN
zum Amtmann
Nein, dieses Wetterglück!
Du kommst?

AMTMANN
zu Johann
Im Augenblick ...

SOPHIE
die Unterhaltung mit Johann fortsetzendSie näht am Kleide
Noch für den Ball ...
Sie bliebe gern zurück,
Jedoch in Wahlheim darf
Beim Kränzchen sie nicht fehlen.

SCHMIDT
Natürlich nicht! ... Da viele Tänzer auf sie zählen.
Der Steiner lässt sein Pferd nicht gern im Stall.
Auch Hoffmann ist dabei. Alles tummelt sich tüchtig.
Und denk: sogar Herr Werther freut sich auf den Ball!

AMTMANN
zu beiden
Zu gönnen wär es ihm.

JOHANN
auf die Stirn deutend
Bei dem scheints hier nicht richtig ...

AMTMANN
eifrig
Er ist gelehrt.. und fleissig, still ...

SCHMIDT
lebhaft
Doch gar so melancholisch!..

JOHANN
Er weiss nicht, was er will.

AMTMANN
nachdenklich
Er hat den Botschaftssekretär schon in der Tasche,
Der Fürst auch, heisst es, schätzt ihn sehr.

JOHANN
wegwerfend
Ein Diplomat! Ach geh! Was hat denn der
Zu beissen?

SCHMIDT
ebenso
So ein Schlucker trinkt kaum eine Flasche!..

JOHANN
zum Amtmann, nach seinen Händen greifend
Wir sind im "Stern"! Kommst Du auch bald?

SCHMIDT
ebenso
Ja, Du bist uns Revanche schuldig.

AMTMANN
der sich losmachen will
Nein doch, halt!

JOHANN
Was? Unsinn! Heute soll es junge Krebse geben,
Wie Butter weich und gross ... dazu ein Gläschen Wein ...

AMTMANN
Du Leckermaul!.. Das sind Verführer!
Die beiden Männer schicken sich zum Fortgehen an
Wollt Ihr nicht Lotte sehn? Sie muss gleich fertig sein!

SCHMIDT
zu Johann
Wir sehn sie später noch. Jetzt aber promenieren
Wir noch ein bischen, nicht zu weit.

AMTMANN
lächelnd zu Johann
Du brauchst wohl Appetit?

JOHANN
brummend zu Schmidt
Er muss sich stets moquieren ...
Komm, gehn wir, es ist Zeit.

SCHMIDT
dreht wieder um
Nur Eins noch! Albert ... wann kommt er zurück?

AMTMANN
Nicht vor morgen!
Um seinetwillen keine Sorgen!
Erreicht hat er den Zweck der Reise, mehr als das.

SCHMIDT
Viel Glück!
Dein Albert ist nicht wie die jungen Laffen,
Nein, accurat als wie geschaffen
Für Lotte. Na, ich freu mich schon aufs Hochzeitsfest!
Wir wollen brav uns halten
Und tanzen flott, wir Alten!
Die beiden Männer gehen Arm in Arm fort
Gut Nacht, Ihr Kinderchen!

JOHANN
Ade, Du kleines Volk!

SCHMIDT
leise zum Amtmann
Dass Du kommst!

JOHANN
ebenso
Nicht zu spät!

ALLE
Ade! Ade!

SCHMIDT UND JOHANN
singen im Abgehen
Gott Bacchus lebe allezeit!

AMTMANN
zu den Kindern
Ihr kommt! Noch vor dem Nachtmahl wiederholen wir
Das Weihnachtslied. Marsch, wilde Rotte!
Er steigt mit den Kindern wieder hinauf
Sophie, sieh einmal nach, wies steht mit Lotte!

Sophie ab

Der Amtmann macht es sich im Lehnstuhl bequem; die Jüngsten klettern ihm auf die Kniee und hören ihm andächtig zu. Die Tür zum Glasbau ist halb geschlossen. Werther tritt, von einem jungen Bauernburschen geführt, in den Hof und besieht sich neugierig das Haus

WERTHER
zu dem Burschen
Soviel ich seh, ist hier des Amtmanns Haus.
seinen Führer entlassend
Ich danke.
Er gehet weiter vor und bleibt vor dem Springbrunnen stehen
Wie süss, zu weilen hier! Mir ist, als ob ich träume! ...
Der reine Abendhimmel hat ausgespannt sein Zelt;
Wie leiser Harfenton durchrauscht der Wind die Bäume,
Und meine Augen schaun in eine bessre Welt.
O Natur! Den Himmel hienieden
Hast Du den Sterblichen beschieden!
Du nimmst mich auf in deinen Frieden,
Mit Mutterarmen hältst Du Dein Kind!
Geheimnisvolles Schweigen berührt mein Herz gelind.
Und wie so schön ists hier! ... Das Haus! Die Gartenmauer!
Und dieses muntern Quells erfrischend kühle Schauer!
Und kein Plätzchen so klein, das nicht heimlich belebt,
Ob ein Blümchen erblüht, ob ein Strauch sich erhebt!
Von den Wiesen schwebt
Es empor wie ein Rauch.
Es zittern durch die Lüfte
Starke, würzige Düfte..
Rings die Hügel, das weite Thal
Erglühen mit mir im Abendstrahl!

DIE KINDER
von innen
Christus ward geboren,
Der zum Heiland Euch erkoren,
Hirten, Ihr von Israel!
Hoch vom blauen Himmelszelt
Rauscht es wie von Hüterschwingen,
Und man hört die Englein singen
Durch die weite Gotteswelt:
O Nacht des Heils!

WERTHER
lauschend
Der Gesang!
Jenes Lied, das auch mir einst erklang!..
O Kinderzeit!
Was wusst ich da von Not und Plage!?
Mein Blick war hell, mein Herz war rein!
Wo seid ihr all, ihr sel'gen Tage?
Könnt ich ein Kind doch wieder sein!

Verweilt einen Augenblick in tiefem Nachsinnen. Lotte tritt ein; die Kinder machen sich von dem Amtmann los und springen ihr entgegen

DIE KINDER
Die Lotte!

LOTTE
zum Amtmann
Sag, Vater, waren alle brav?

AMTMANN
Sehr brav. Sie singens jetzt im Schlaf.

DIE KINDER
rund um Lotte
Hei! Vater hats gesagt! Ja, wir sind brav.

AMTMANN
küsst die Tochter und bewundert ihren Anzug
So lass Dich doch betrachten,
Mein Liebchen!

DIE KINDER
Gelt, sie ist schön?..

AMTMANN
Lotte bei den Händen nehmend und sie von Neuem betrachtend
Fürwahr, nicht zu verachten!
Sie werden staunen und zufrieden mit Dir sein!

LOTTE
lächelnd
Doch warten lässt man mich, noch stellt sich niemand ein,
Ich will es weiter nicht beklagen!..
Hab ich doch Zeit zur Not,
Den Kindern zu verteilen noch das Brot!

Sie holt vom Buffet ein riesengrosses rundes Brot und schneidet Schnitten für die Kinder ab. Man hört in der Ferne Schellengeläut und das Fahren eines Wagens

AMTMANN
Beeile Dich! Ich hör den Wagen!

Die Kinder drängen sich mit ausgestreckten Händen um Lotte und springen, je nachdem sie ihr Abendbrot erhalten, davon

DIE KINDER
Schön' Dank, lieb Schwesterlein!

Werther, der auf die Treppe gestiegen ist, verfolgt die Szene als ungesehener Zeuge

AMTMANN
der ihn bemerkt
Herr Werther, nur herein!
Die Ehr ist gross für mich! Seid tausendmal willkommen!
Der König bin ich hier, ob auch mein Reich nur klein!
ihm Lotte vorstellend
's ist meine Tochter, die die Wirtschaft übernommen,
Sie liebt und sie verwöhnt die wilde Schar,
Seitdem die Mutter starb im letztvergangnen Jahr ...

LOTTE
einfach
Verzeihen Sie, mein Herr, wenn ich nicht widerstreite!
Sie lernen kennen mich von meiner schwachen Seite.
Ja, Ja, mich freuts, dass meinen Kleinen hier
Das Essen mundet nur von mir.

Die Ballgäste treten in den Hof; der Amtmann bewillkommt sie mit Sophie, die aus dem Lachen nicht herauskommt

AMTMANN
Brühlmann, da seid Ihr ja!
zu Käthchen
Ei meine Beste!
Tretet doch ein!

Brühlmann geht neben Käthchen her; sie haben die Augen in einander versenkt und beachten den Amtmann nicht, der ihnen lachend folgt

BRÜHLMANN
mit einem Seufzer des Entzückens
O Klopstock!

KÄTHCHEN
schwärmerisch
Göttlicher Mann!

AMTMANN
lachend zu Brühlmann
Schon recht!
Verspart das Andre Euch zum Feste!..
Verplaudern müsst Ihr Euch, wenn gar zu viel Ihr sprecht.

Werther, der in Lottens Anblick versunken dasteht, nimmt, als Lotte vor dem Spiegel ihre Schärpe ansteckt, das jüngste Kind und herzt es. Das Kind fürchtet sich

LOTTE
zu dem Kinde
Der Vetter tut Dir nichts!

WERTHER
erstaunt
Wie? Vetter? Ein Verwandter
Wär ich wohl gern!..

LOTTE
vergnügt
Bei uns heisst Vetter ein Bekannter!
So viele haben wir! Es tut beinah mir leid,
Dass Ihr der Letzte unter ihnen seid!
Werther geht langsam voraus, ohne den Blick von Lotte abzuwenden. Lotte mit Würde zu Sophie auf die Kinder deutend
Du bleibst an meiner Statt, Sophie!
Nur Dir vertrau ich sie.
zu den Kindern
Und Ihr betragt Euch ganz wie gegen mich!

SOPHIE
Wohl haben sie mich lieb, doch nicht so lieb wie Dich!..

WERTHER
voll Entzücken, während Lotte die Kinder umarmt
Reizendes Bild der Unschuld und der Liebe,
Die Augen tragen Dich ins Herz hinein!
Zu träumen mein ich ... dass der Traum doch bliebe
Mein ganzes Leben lang, wie selig wollt ich sein!

Beinahe die Mehrzahl der Gäste ist fort; nur Brühlmann und Käthchen stehen noch in Schweigen vertieft am Springbrunnen. Lotte, zum Gehen bereit, steigt in den Hof hinab. Werther schliesst sich ihr an. Sophie und die Kinder gruppieren sich auf der Terrasse und werfen der Schwester Kusshändchen nach

AMTMANN
sich von Werther verabschiedend
Meinen Respekt!

LOTTE
küsst dem Amtmann die Hand
Geliebter Vater!

AMTMANN
zu Lotte
Viel Vergnügen!

Lotte und Werther gehen mit den Andern ab; Brühlmann und Käthchen als die Letzten, ohne ein Wort gesprochen zu haben

AMTMANN
gemütlich spottend
Noch immer sehn sich die da an:
O Klopstock! Göttlicher Mann!
Sie haben sich verstiegen
Und gründlich ausgeschwiegen!..

Sophie hat die Kinder ins Haus zurückgetrieben

AMTMANN
trällert, während er seine lange Porzellanpfeife vom Gestell herabnimmt
Gott Bacchus lebe allezeit!

Er setzt sich im Lehnstuhl bequem zurecht und wiederholt das Trinklied etwas kleinlaut. Sophie kommt wieder und lächelt, als sie den Vater sieht. Sie holt leise seinen Stock und Hut aus der Ecke und reicht sie ihm artig dar

SOPHIE
schnippisch
Wer wollte heut denn in den "Goldnen Stern"?

AMTMANN
verlegen
Wer?.. Ich?.. Mein Kind, Du bist allein!

SOPHIE
Was Tuts?..

AMTMANN
zwischen den Zähnen das Lied summend
Hm, hm, hm, hm, hm.. Nein!

SOPHIE
nachdrücklich
Du musst ja gehen!
Die Freunde sehen Dich so gern!

AMTMANN
lässt sich überreden und nimmt Stock und Hut Sophien aus der Hand
Auf einen Schluck.. nun gut ...
zu Sophie mit komischer Ergebung
Dein Wille soll geschehen!

Sophie begleitet den Vater und schliesst die Strassentür hinter ihm. Es wird allmählich Nacht. Albert tritt auf; er kommt vom Garten her, den Mantel über dem Arm, betrachtet er erwartungsvoll das Haus, nähert sich und bemerkt die eben hinaufgehende Sophie

ALBERT
Sophie!

SOPHIE
Albert, Du bist schon da?

ALBERT
Ich bins.. ganz unverhofft.. ja, ja!

SOPHIE
Wie wird sich Lotte drum betrüben,
Kommt sie nach Haus!..

ALBERT
Ist sie nicht da?

SOPHIE
Nein, sie ist aus.
Wär sie daheim geblieben!
Kein Mensch auch hat uns hinterbracht ...

ALBERT
Es sollt es niemand wissen ...
Doch rede mir von ihr,
Die mir so lang entrissen!
Hat sie wohl manchmal mein gedacht?
Ein halbes Jahr sah ich sie nimmer ...

SOPHIE
unschuldig
Denkt man der Fernen denn nicht immer?
Und ausserdem bist Du ihr Bräut'gam ja!

ALBERT
erfreut
Du liebes Herz! Doch sag, was sonst geschah?

SOPHIE
Nichts. Aber Alles wünscht, Ihr möchtet Euch vermählen!

ALBERT
Wir möchten uns vermählen?!..

SOPHIE
Da gibt es einen Tanz?

ALBERT
Gewiss.. der soll nicht fehlen!
mit Wärme
Dass doch ein Herz soviel des Glückes in sich fasst!
Beinah bedrückt mich diese süsse Last!
führt Sophie bis auf die Terrasse
Nicht will ich, dass mich jemand sehe!
Ich habe mir was ausgedacht:
Zur Nacht bleib ich in Eurer Nähe,
Bis neu der junge Tag erwacht.

SOPHIE
im Hineingehen
Mein Herr und Schwager, gute Nacht!
schliesst die Glastür

ALBERT
allein
Sie liebt mich! Sie hat mein gedacht!
Euch, o Gefühlen, lass ich freien Lauf,
Die ihr der Gottheit Walten spüret!
Schwebt als Gebet zum Himmel auf
Und sagt, wie sie zum Dank mich rühret!
Ihr liebenden Gedanken
Und Träume, schwärmt umher!..
Ach, dass sie bei der Wiederkehr
Euch fächeln fühlt um Stirn und Wangen!
Umringt sie ganz und nehmt ihr Herz gefangen!

Er entfernt sich zögernd. Es ist Nacht geworden; der Mond beleuchtet nach und nach das Haus. Lotte und Werther erscheinen an der Gartentür; sie kommen langsam, Arm in Arm, und halten erst am Fusse der Terrasse still, beide in Nachdenken verloren

LOTTE
einfach
Wir müssen scheiden jetzt, ich bin zu Haus,
Auch ist es Schlafenszeit.

WERTHER
Entfliehen muss die Wonne
Mit Deinem Augenpaar! Nun in die Nacht hinaus!
So geht die Lust vorbei.
Dein Auge meine Sonne!
Wenn ich ferne von Dir bin,
Dämmern traurig die Stunden dahin.
Mag mit goldigem Strahl das Frührot erscheinen,
Für mich währt tiefe Nacht,
Ich habe keinen Stern, ach, keinen!
Du bist mein einzig Licht, ich lebe nur in Dir!..

LOTTE
lächelnd
Was wissen Sie von mir?

WERTHER
überzeugt
Verwandt sind unsre Seelen beide,
O Lotte!
Ich kenne Dich genug,
Dass ich Dich unterscheide
Von Allen!..

LOTTE
lächelnd
Ist's kein Selbstbetrug?

WERTHER
zärtlich
Du bist ein holder Engel!
Das edelste Geschöpf, ganz ohne Fehl und Mängel!

LOTTE
verwirrt
Ach, nein ...

WERTHER
Ja, so hab ich Dich gleich erkannt,
Da ich Dich bei den Kindern fand!

LOTTE
nähert sich Werthern nachdenklich
Die Kinder! Freilich ... ja, das gilt!..
Wohl darf ichs eingestehen,
Weil Sie in mir ein schwaches Bild
Der guten Mutter nur gesehen.
Ihr ähnlich mag ich sein.
Oft mein ich, dass sie lächelt, winkt mit blasser Hand
Aus jenem Land.
Wie oft hab ich gewünscht, sie käme einmal wieder,
Und wär es nur für einen kurzen Augenblick,
Und säh auf uns mit Wohlgefallen nieder!..
mit grosser Innigkeit
Ach, teure Mutter, hält Dich fest das Grab?

WERTHER
O glaube, Lotte! Sie blickt jetzt herab
Und senket auf Dein Haupt des Paradieses Segen!

LOTTE
O käm sie uns entgegen!
Was ist so grausam, als zu wissen,
Dass uns das Liebste von der Welt
Für immer wird entrissen?
Zwar keinem bleibt erspart
Erfahrung solcher Art!..
Warum doch muss vergehen, was so köstlich?
Den Kinderchen auch wills nicht in den Sinn,
Sie kommen oft und fragen ganz untröstlich:
Wo trugen die Mama die schwarzen Männer hin?

WERTHER
Träume der Wonne, des Glückes!
Hin gäb ich gern mein Leben
Für den Glanz dieses Blickes,
Die Stirn, den süssen Mund,
Dem Worte reinster Lieb und Unschuld nur entschweben!..
Wenn nur einmal dies Alles mein
Wär allein!
Dies reizende Lächeln!..
Teure Lotte,
Die ich liebe,
Die ich hoch verehre,
Der ich ganz gehöre!..

LOTTE
kommt zur Besinnung und steigt rasch die Treppenstufen hinan
O lassen Sie mich gehn!

WERTHER
hält sie zurück, mit erregter Stimme
O sprich, wann wir uns wiedersehn?

AMTMANN
ruft von Weitem
Lotte! Lotte!
kommt herbei
Denk Lotte! Albert ist schon da!

LOTTE
wankt
O Gott!

WERTHER
fragend zu Lotte
Wer? Albert?

LOTTE
leise und traurig zu Werther
Auf ihrem Totenbette
Traf meine Mutter diese Wahl ...
noch immer leise, wie sich anklagend
Gott kennt mein Herz! Nur einmal, eben jetzt ...
Vergass ich meinen Eid ... um Ihretwillen!..

WERTHER
verbirgt schluchzend das Gesicht in den Händen
Und diesen Eid sollst Du erfüllen!..
Ich sterbe gern!.. O Lotte!..

Der Amtmann nimmt Lotte um die Mitte und hilft ihr die Stiege hinauf. Lotte wendet sich ein letztes Mal um

WERTHER
allein, verzweifelt, nachdem Lotte verschwunden ist
Ein Andrer ... ihr Gemahl!..

Vorhang

ZWEITER AUFZUG

Die Linden

Im September desselben Jahres in Wahlheim

Der Hauptplatz. Im Hintergrunde das protestantische Gotteshaus. Links die Pfarrwohnung. Rechts das Wirthshaus mit Hopfengarten. Vor der Kirche verschnittene Linden, welche die Tür frei lassen. Unter den Linden neben dem Eingange zum Pfarrhause eine Bank. Schmidt und Johann sitzen am Tische vor dem Wirthshause. Im Hintergrunde rechts die zum Ort hinaufführende Strasse und Feld. Schönes Wetter; Sonntagnachmittag

JOHANN
das Glas in der Hand
Gott Bacchus lebe allezeit!
Heut ist Sonntag!

SCHMIDT
ebenso
Gott Bacchus lebe allezeit!
Heut ist Sonntag!

JOHANN
Ah, solch ein Tag ist wohl zu loben!
Wie hell die Sonne blitzt durchs grüne Laub dadroben!

SCHMIDT
Das will ich meinen! So ein bischen Sonnenschein,
Dazu die Luft hübsch klar und rein ...

BEIDE
Ja, so gefällts mir!

Orgelspiel in der Kirche

SCHMIDT
Lass die Orgel klingen,
Lass den Choral sie singen ...
Den Schöpfer loben wir auf unsre eigne Art,
Mit guten Gaben hat er wahrlich nicht gespart.

BEIDE
Preis sei dem Herrn, der uns gegeben
Den schönen Tag und diesen Saft der Reben!

JOHANN
sich umsehend
Noch immer kommen Leute von allen Seiten her!
Den alten Pastor ehrt man sehr.
Die goldne Hochzeit soll er halten!

SCHMIDT
Was sind die fünfzig Jahr für ihn, den jungen Alten!
Gott sei mit ihm! Mir macht schon der Gedanke heiss,
Ich brächt es nicht zu Stand!..

Lotte und Albert erscheinen

JOHANN
erhebt sich, wie er sie bemerkt, und beugt sich zu Schmidt hinüber
Wie dem auch sei,
Ich weiss: noch Andre können
Es so weit bringen mit der Zeit!
deutet auf Lotte und Albert
Sie hin! Da, jene Beiden!

SCHMIDT
steht auf
Ein Glas, dem Paar geweiht,
Das wollen wir uns drin vergönnen!

Sie gehen ins Wirthshaus

Lotte und Albert sind bei den Linden angekommen und setzen sich auf die Bank

ALBERT
zärtlich Lottens Hände ergreifend
Fürwahr! Drei Monde schon.. wer hätte das gedacht!?
Wie schnell verflogen sie! Und dennoch möcht ich schwören,
Dass wir seit Jahren schon uns angehören!

LOTTE
süss
Du schwärmst!..

ALBERT
Du weisst nicht, wie Du glücklich' mich gemacht!
Doch ich?.. Verwegen wills mir scheinen
Zuweilen, dass ich Dich entführt dem Arm der Deinen.
O sage: hat noch nie Dein Opfer dich gereut?

LOTTE
steht auf, einfach
Lieb ich in Dir ja doch das beste aller Herzen!
Ich fühl es lebhaft heut. Wie leicht lernt ich verschmerzen,
Was mich als Mädchen einst erfreut!

ALBERT
bewegt
O Dank für alle Deine Liebe!
Kaum hatt ich es erhofft, unsäglich ist mein Glück!
O dass es immer bliebe!

Man hört die Orgel wieder. Lotte wendet sich in Alberts Begleitung nach der Kirche. Albert wechselt dann einige Worte mit anderen Kirchgängern. Werther ist oben auf der Landstrasse erschienen und verfolgt die Vertraulichkeit der beiden Gatten mit sichtbarer Unruhe

WERTHER
für sich
Ein Andrer ihr Gemahl! Du guter Gott!
O hättest Du's gewährt,
Den Engel mir bescheert,
Dass ich mit ihm durchs Leben ging!
In ew'ger Liebe Ahnen,
Das meinen Geist umfing,
Wallt ich auf Deinen Bahnen!
Das ist vorbei ... und ich ...
Vergib!.. Ich lästre Dich!
Du weisst, o Gott, ich war geliebt von ihr!
Für mich ward sie geboren,
Die einzig mir erkoren.
Du selbst hast sie mir zugeschworen,
Sie, Deiner Schöpfung schönste Zier!
Du weisst, o Gott, ich war geliebt von ihr!..
Du selber hast den Himmel mir geöffnet,
Dann schloss sich donnernd seine Thür!
Du weisst, o Gott, ich war geliebt von ihr!
Verloren ist mein Sehnen ...
O löste sich mein ganzes Wesen auf in Tränen!

Werther will sich schnell entfernen, bricht aber auf der Bank zusammen und begräbt das Gesicht in den Händen Johann und Schmidt erscheinen auf der Schwelle des Wirthshauses. Schmidt gibt Brühlmann, der stumm und gebrochen ist, den Arm

SCHMIDT
zu Brühlmann
Wenn Dein Schatz wiederkommt, so sag ichs Dir!

JOHANN
ebenso
Ob nun spät oder früh,
Gib Dir drum keine Müh!
Was tut es?
Sie ist Dir ja gewiss!
Brühlmann schüttelt den Kopf
Ein Brautstand von acht Jahren
Kriegt so leicht keinen Riss!
Darum sei guten Mutes!

SCHMIDT
Brühlmann fortziehend
Eilen wir uns! Bald fangen sie dort an!
Ein jeder schwingt sein Bein! Frisch zu, wer tanzen kann!

Sie torkeln mit einander ab. Von der Kirche kommend, legt Albert seine Hand auf Werthers Schulter. Werther fährt zusammen und macht eine Bewegung, als ob er sich von Albert entfernen wollte

ALBERT
Von hellem Glück strahlt meine Seele,
Doch, Freund, ein Schatten trübt den reinen Sonnenglanz.

WERTHER
erstaunt
Wie? Hör ich recht?

ALBERT
mit Freimut
Wohl, Euerm Zartgefühl vertrau ich ganz.
Eh Lotte meine Frau geworden, ...
Ihr glaubtet sie noch frei ...
Hat sie auch Euch gefallen,
Ihr dürft es frei gestehen!
Und träumtet Ihr von Liebe ...
Ging nicht der Traum vorbei?
Ja, sie nur anzusehen
Ist Wonne schon!
Glaubt mir: ich kenn am besten meines Glückes Preis!
Ihm zu entsagen kam Euch heuer wohl zu stehen!
Er ergreift leidenschaftlich seine Hand
Erfahren sollt Ihr, dass ich zu vergeben weiss!

WERTHER
Nehmt meinen Dank und macht um mich Euch keine Sorgen!
Ja, wär es, wie Ihr sagt, und litt ich wirklich schwer,
Entfernt ich mich sogleich, noch lieber heut als morgen!
Fern wär ich längst von Euch, Ihr säht mich nimmermehr!
Wenn Stürme früher wild mein Herz einmal durchtobten, ...
Sie ruhn! Der Leidenschaft bot stark ich Widerstand,
Ein Freund Euch will ich sein! O lasst dem Schmerzerprobten,
Die Ihr ihm dargereicht, die treue Bruderhand!
Entsagend mich zu freun, das ist mein Loos auf Erden!

SOPHIE
läuft herbei, mit Blumen in der Hand
Schwager, da seht! Nicht wahr? Das nenn ich einen Strauss!?
Fürs Fest ist er bestimmt, dem Pastor soll er dienen!
Doch dann geht es zum Ball!..
zu Werther
Sucht Euch den Tanz nur aus!
Ob Ländler, Menuett ... Ei wie? So finstre Mienen?
Nicht doch, mein Herr! Heut wird gelacht!
Seht nur den heitern Tag, zur Freude wie gemacht!

Ganz in der Früh, als sich erhoben
Im Osten fern die Sonne kaum,
Flog durch den blauen Raum
Ein Vögelein hinauf nach oben.
Widiwit, widiwit ...
Nimm mich mit, nimm mich mit!

Es flog zum lieben Gott hinein
Und fragt ihn, ohne sich zu scheuen:
Ist es erlaubt, dass wir uns freuen?
Gott sprach: Ja, ja, heut mag es sein!
Tirili, tralala ...
Ich bin da, ich bin da!

WERTHER
schwermütig, für sich
Weh mir! Wo winkt ein Freudenschimmer?

ALBERT
zu Sophie
Überbring Dein Geschenk! Zum Pastor gehe jetzt!
Ich folge nach.
Sophie entfernt sich einige Schritte, zu Werther
Wir sprachen da vom Glück ... weit ziehn wir nach ihm aus,
Wir rufen, suchen es und findens nimmer!
Vielleicht ist's unterdess schon längst bei uns im Haus ...
Und wartet an der Thür mit einem Blumenstrauss.

Werther schweigt

SOPHIE
vor der Tür des Pfarrhauses
Du da, komm ja beizeiten!
zu Werther
Merkts Euch, Herr Werther! Ihr sollt mich zum Tanz geleiten!
Darum bleibt nicht zu lang!

Sophie, die wieder näher gekommen ist und ihr Lied wiederholt hat, geht dann mit Albert ins Pfarrhaus

WERTHER
allein
Ist es denn wahr, was liebend ich empfinde,
Die Sehnsucht, die ich fühl, ist sie so zart und rein?
Brach nicht die Sünde
Verheerend in das Heiligthum des Herzens ein?
heftig ausbrechend
Pfui, dass ich log! O Gott, ich wars im Stande!
Ich täuschte mich und ihn!
Mir diese Schmach! Mir diese Schande!
Ich muss ihr schnell entfliehn!
Lotte tritt aus der Kirche und geht auf das Pfarrhaus zu. Werther, der sie sieht, mit verändertem, traurigen Tone, für sich
Entfliehn? Nein! Nur bei ihr ist Seligkeit, ist Leben!

LOTTE
ohne Werther zu bemerken
Gott hat mir wunderbar von neuem Kraft gegeben.

WERTHER
von weitem
O Lotte!

LOTTE
wendet sich um
Ist's möglich, Werther, Sie sind hier?

WERTHER
nähert sich langsam
Wozu? ... Dass ich mit Anderen Sie tanzen sehe!?
er geht noch näher auf Lotte zu, die unbeweglich bleibt
Ach, nie erlischt der Tag in der Erinnrung mir,
Der mich geführt in Ihre holde Nähe,
Ob er auch längst versank! Da wir ein einzig Mal
Verkehrten ungestört, so selig nah verbunden!
Da vom Himmel der Sonne verglühender Strahl
Uns im Garten gefunden,
Mit seinem Licht uns still verklärt!

LOTTE
kalt
Albert liebt mich,.. ich bin seine Gattin!

WERTHER
aufwallend
Wohl liebt Sie Albert, doch wer liebt Sie nicht?

LOTTE
sanfter
Mein Freund, warum doch machen wir das Herz uns schwer?
Es gibt wohl Andre mehr,
Die Ihrer Liebe werth! Sie dürfen jede frein ...
Warum muss ich es sein?

WERTHER
Red es dem Narren ein,
Dass er vernünftig wieder werde!

LOTTE
entschlossen
Nun wohl, dann scheidet uns jedes Gebot der Erde,
Dann gehen Sie! Sofort!

WERTHER
Hör ich recht? Ha, welch ein Wort!

LOTTE
ernst
Es kommt von Herzen mir, tief aus der Seele!

WERTHER
heftig
Und wer gibt mir Befehle?..

LOTTE
Die Pflicht!
sanfter
Der Trennung Zeit wird Ihnen Frieden schenken.

WERTHER
schmerzlich
Doch mich vergessen lehren, das vermag sie nicht!

LOTTE
noch liebenswürdiger
Vergessen? Nein! Vielmehr: Sie sollen mein gedenken,
Ja, denken meiner Ruh und ohne Groll und Pein!

WERTHER
beruhigt sich allmählich
Dass ich Sie glücklich weiss, ist einzig mein Verlangen, ...
unter Tränen, aber ruhig
Doch nie mehr Sie zu sehn, das ist unmöglich!.. Nein!

LOTTE
voll Wärme
Mein Freund, das wäre selbst für mich zu weit gegangen ...
An Trennung dacht ich, die den Weg Euch offen lässt ...
sich beherrschend
Sie kehren bald zurück ... vielleicht.. zum Weihnachtsfest.

geht ab

WERTHER
flehend
O Lotte!

LOTTE
wendet sich noch einmal um, ehe sie verschwindet
Also: zum Fest!

WERTHER
nach einem Augenblick der Niedergeschlagenheit, mit Festigkeit
Ich will mich männlich fassen,
Was sie befahl, das werd ich tun! ...
Doch.. wenn die Kräfte mich verlassen?..
Dann, armes Herz, sollst Du für immer ruhn!
nachdenkend
Warum in Angst setzt uns der Tod?
Was ist er weiter?
Man schliesst die Augen zu, verträumt die ird'sche Not;
Ein Schlummer für die Ewigkeit,
Ein schneller Sprung ins Grab, der vom Leben befreit
Wenn sich ein Kind zu früh nach Haus zurückgefunden,
Mit leisen Schritten huscht es durch die Tür herein,
Und kommt es vor der Zeit und achtet nicht der Stunden,
Der Vater wird darum nicht ungehalten sein.
O Gott, sieh an Dein Kind, kannst Du ihm nicht verzeihn?
Wenn Du Dich sein erbarmst, wirst Du nicht in die Ferne,
Ins Elend stossen nackt hinaus Dein armes Kind!
Entfaltest lächelnd ihm den Mantel Deiner Sterne,
Mit warmer Vaterhand hüllst Du es ein gelind!
Vater, den nie mein Auge sah,
Dein Blick ruht sanft auf mir!
Rufe mich ab, nimm mich zu Dir!

SOPHIE
tritt aus dem Pfarrhause
Nun aber kommt! Versammelt ist schon Alles
Zum Beginne des Balles!
Man wartet nur auf Euch!

WERTHER
ungestüm
Nein, ich muss fort von hier!

SOPHIE
mit erstickter Stimme
Fort wollt Ihr?

WERTHER
verlegen
Ja, sogleich!

SOPHIE
Sogleich?.. Wohl nur zum Spasse?
Ihr kommt zurück alsbald, nicht wahr?

WERTHER
heftig, im höchsten Affekt
Nein! Niemals!.. Ade! ...

Er läuft davon

SOPHIE
ruft ihm nach
Hört! Nur ein Wort!
Sie verfolgt ihn bis auf die Strasse
Er biegt ab von der Strasse!
Jetzt ist er fort!
Fahr wohl!..
kommt weinend zurück
Ach Gott! Ich konnte mich so glücklich wähnen!

Der Festzug erscheint. Zulauf von verschiedenen Seiten

LOTTE
erblickt Sophie und eilt auf sie zu
Was ist geschehn, Sophie? Du in Tränen?

SOPHIE
fällt Lotten in die Arme
Ach, Schwester, ach! Herr Werther ist entflohn!

ALBERT
zusammenschreckend
Er!

SOPHIE
Und auf immerdar! Er sagt es mir ausdrücklich!
Davon und querfeldein ohne Hut!

LOTTE
bestürzt, für sich
Ha, für immer!

ALBERT
indem er Lotte düster anblickt
Er liebt sie!

Der Zug durchschreitet den Platz unter Zurufen und Vivatgeschrei

Vorhang

DRITTER AUFZUG

Lotte und Werther

Am 24. Dezember, Nachmittags 5 Uhr.

Das Empfangszimmer in Alberts Hause. Hinten links in einer tiefen Nische eine Tür mit springenden Flügeln. Rechts in der gegenüberliegenden Ecke ein grosser grüner Kachelofen. Im Hintergrunde das Klavier, mit den Tasten nach vorn. Daneben ein Fenster. Rechts führt eine Tür in Alberts Zimmer, links eine andere in das Lottens. Vor der ersten Kulisse links ein kleiner Schreibtisch; weiterhin ein Arbeitstisch und ein Armsessel. Rechts im Vordergrunde ein Sofa. Auf dem Tisch eine brennende Lampe mit Schirm

LOTTE
sitzt allein am Arbeitstische
O Werther!.. Nicht mehr kann ichs mir verhehlen,
Dass all mein Denken, Fühlen ihm nur gilt!
nach einer Weile
Denn seit er abgereist, scheint mir das Beste zu fehlen,
Sie lässt die Arbeit fallen
und mir vor Augen schwebt sein Bild!
Sie erhebt sich langsam, als würde sie vom Schreibtisch angezogen, den sie öffnet
Die Briefe!.. Lesen muss ich immer wieder,
Was mich beseligt und so schwer doch drückt darnieder!..
Sollt ich sie nicht verbrennen?.. Könnt ichs nur!
Sie geht zum Tisch zurück, die Augen auf den Brief gerichtet, den sie in der Hand hält. Liest:
"Still ist die Flur.
Ein grauverhängter Himmel.
Draussen tanzt der Flocken Gewimmel.
Frost starrt um mich, Schnee hüllt mich ein.
Ich bin allein, ja, stets allein!" ...
Sie lässt sich in den Sessel fallen
Und niemand ist um ihn in seinen dunklen Stunden,
Der Trost und Mitleid spenden kann!
Ach, wie nur kams,
Dass ich Aermste den Mut gefunden,
Zu verbannen den Freund,
Ein Opfer seines Grams?
Nach einer Weile nimmt sie einen andern Brief und entfaltet ihn. Liest.
"Zum Fenster dringt empor der Kinder frohes Lärmen,
Ich hör es gerne.. doch bald denk ich sehnsuchtsvoll
Der lieben Kinderschar, die ich entbehren soll ...
Wen mögen sie wohl jetzt umschwärmen?"
Hört auf zu lesen; mit Ausdruck
O nein, mein Freund! Denn immer drängen sie
Sich an mich an mit Bitten und mit Fragen:
Wann kommt er denn zurück?.. Ob spät vielleicht, ob nie?
Sie steht auf; erschreckt
Hier dieses letzte Blatt.. o Gott, was will es sagen?
Liest
"Freu ich mich auf das Fest, den Weihnachtstag? Nein, nein!
Zurück zu Dir zu kehren,
Wird mir unmöglich sein.
Was kann der Christ mir noch bescheren? ...
Nur Eines bitt ich Dich:
Verdamme mich nicht! Nein, wein um mich!"
Sie wiederholt mit Schaudern, als fürchte sie den Sinn zu verstehen, die Worte:
"Verdamme mich nicht! Nein, wein um mich!"
fährt fort zu lesen
"Wird sich auf diese Zeilen senken
Dereinst das schöne Auge Dein,
Wie wir der Toten mild gedenken,
So, süsse Lotte, denke mein!"

Sophie, die schnell eintritt, bleibt an der Türe stehen; sie ist mit Spielsachen für den Weihnachtsabend bepackt. Lotte verbirgt überrascht den Brief vor der Schwester

SOPHIE
Grüss Gott, mein Schwesterherz! Was gibt‘s denn Neues?
Kommt fröhlich näher und legt ihre Pakete auf der Kommode ab
Dein Mann ist noch verreist. Dich sieht man gar nicht mehr.
Den Vater auch bekümmert‘s sehr.

LOTTE
zerstreut
Du Kind!

SOPHIE
nimmt Lotten um die Taille
Ist Dir nicht wohl?

LOTTE
entzieht sich dem Arm Sophiens
Was sind das für Gedanken?

SOPHIE
befühlt ihre Hand und betrachtet ihr Gesicht
Das Ansehn einer Kranken!
Und Deine Augen rot?
Ich seh's recht gut!

LOTTE
wendet sich verwirrt ab
's hat keine Not!
zu Sophie zurückgewendet
Ein bischen Traurigkeit ... nenn‘s Grillen, kleine Leiden!
Sie bleiben keinem fern und nahn, um bald zu scheiden.
mit erzwungener Heiterkeit
Nicht denk ich weiter dran ... und weint ich, lach ich nun.

SOPHIE
naiv
Ja, fröhlich sei und scherze!
Wärs wieder doch, wies einstens war!

LOTTE
für sich mit Bedeutung
Ach, wie einst!

SOPHIE
vergnügt
Wohl lachten wir uns weg vergnügt und froh die Sorgen
Und waren gut gelaunt zu jeder Zeit,
Dem Vogel gleich am frühen Morgen!
Des Herzens Heiterkeit
War Allen anzusehn.
Sie zieht Lotte zum Sessel fort und setzt sich ihr auf den Schoss
Hör, seit ich älter ward, bemerk ich manche Sachen,
Ja, seh ich doch, was Alle für Gesichter machen,
zögernd
Seit ein Gewisser fort von hier!
Lotte erbebt
Warum doch lassen ohne Kunde
Wir ihn, der treu von Herzensgrunde?

Lotte macht sich von Sophien los und erhebt sich

LOTTE
Sogar mein Schwesterlein spricht schon von ihm zu mir!

SOPHIE
wendet sich um
In Tränen?.. O vergib mir, dass ichs wagte!
Kaum weiss ich es, wie mir das Wort entfuhr!

LOTTE
beherrscht sich nicht länger
Geh! Lass mich weinen nur!
mit Leidenschaft
Vernimm, was einst zu mir die Mutter sagte:
Die Tränen, welche man nicht weint,
Die nicht den Augen heiss entrinnen,
Sie fallen tropfenweis nach innen,
Da trinkt das Herz sie und versteint.
Zerspringen möchts vor wildem Pochen,
Es klopft so laut, es klopft so bang
Wie Hammerschlag und Glockenklang,
Und eh mans denkt, ist es gebrochen!

SOPHIE
erschreckt
O hör, was eben mir für ein Gedanke kam:
Komm, folge mir nach Haus, vergiss dort deinen Gram
Da wird die Seele frei,
Denk an die Kinder! Scherze gibt es allerlei
Zum Weihnachtsfest!

Holt das Spielzeug herbei

LOTTE
für sich, heftig bewegt
Das Fest! Ach, jene Zeiten!
"Was kann der Christ mir noch bescheren?
Nur eines bitt ich Dich:
Verdamme mich nicht! Nein, wein' um mich!"

SOPHIE
geht auf Lotte zu
Nun gut, bleibt es dabei?
Du kommst?

LOTTE
ohne Ueberzeugung
Wohl möglich.

SOPHIE
ungeduldig
O komm und Alles sonst vergiss!

LOTTE
versucht zu lächeln
Ganz, wie Du willst.

SOPHIE
dringend
Gewiss?

LOTTE
ewiss. Ich tu's aus freien Stücken.

SOPHIE
Im Ernst?

LOTTE
Nun ja doch.

SOPHIE
Sprichst Du wahr?

Sie will gehen und blickt die Schwester liebevoll an

LOTTE
winkt sie zurück und umarmt sie heftig
Komm her! Lass an mein Herz Dich drücken!

Sophie geht ab

LOTTE
kehrt langsam zum Tische zurück
Luft! Mir ist schwül, ich muss ersticken!
mit Inbrunst
O Gott, o nimm mir ab den Schmerz!
Wohl, ich gehorchte Dir.
Ich tat und ewig tu ich meine Pflicht
Zum Preise Dir, zum Lobe!
Zu hart ist diese Probe,
Und es zerbricht
Mein Herz!
Erhöre mich, o Gott, mein Gott!
Zu Deinem Himmel heb ich auf die Hände,
Dass ich mit Dir mein Leid bespreche!
O hab Erbarmen, Gott!
Nur Du kennst meine Schwäche!
Ach, Deinen Engel mir zu Hülfe sende!
Denn nur bei Dir ist Gnade!
Stärke mich, Da guter Gott!
Und lass mich gehen Deine Pfade!
in der Tür des Hintergrundes erscheint Werther
Ha, er selbst.

Werther bleibt in der Nähe der Tür stehen; er sieht bleich und abgezehrt aus und lehnt sich an die Wand

WERTHER
mit abgebrochener Stimme, beinache ohne Lotte anzusehen
Ja, ich bins. Ich komme noch einmal.
Wenngleich ich Sie nicht mehr zum Zeugen
machen wollte
Der tiefen Qual!
Ich schwör es: Eher sollte
Der Tod beendigen mein Leid!
Doch als dann kam die Zeit,
Die Sie mir festgesetzt,
Da hielt es mich nicht länger fern.
Ja, von der Türe Schwelle wär ich geflohen gern
Noch eben jetzt! ...
Kaum weiss ich mehr, wie es geschah,..
Doch ich bin da.

LOTTE
tief bewegt, sucht sich zu fassen und gleichgültig zu erscheinen
Warum denn wollten Sie nicht kommen?
Warum? Hat jemand Sie gekränkt?
O wüssten Sie, wie gern man Ihrer denkt!
Der Vater.. alle Welt..

WERTHER
kommt mit fragender Gebärde näher
Und Sie? Die so gefasst?

LOTTE
schneidet ihm das Wort ab und überhört seine Frage
Ach lasst! ...
Sie sehen: Alles ist geblieben,
Wie Sie es hier dereinst verlassen!
Sie sind zurückgekehrt
Und finden noch die Stätten all, die trauten, lieben!

WERTHER
blickt im Zimmer umher
Wohl seh ich: Nichts hat sich verändert als ... das Herz!
Alles hat seine Stelle von damals behalten!

LOTTE
zart und einfach
Alles hat seine Stelle von damals behalten!

WERTHER
durchschreitet das Zimmer
Da ist noch das Klavier ...
Wie oft doch stand ich hier,
Wenn von geliebter Hand die Saiten klangen,
Sich unsre Seelen in Musik umschlangen!

LOTTE
hingerissen
Sich unsre Seelen in Musik umschlangen!

WERTHER
tritt an den Tisch
Die Bücher!
Wie oft erglühten wir von heiligen Flammen,
Lasen wir sie zusammen!
Er geht zum Schreibtisch, wo das Pistolenkästchen steht
Die Waffen!
Ich wog sie manchmal in den Händen ...
Ein leiser Druck des Fingers nur,
Und alle Leiden müssten enden!

LOTTE
der die letzte Bewegung Werthers entgangen ist, nimmt ein geschriebenes Heft vom Klavier
Und die Lieder Ossians hier!
Sie fingen an, sie mir zu übertragen ...

WERTHER
nimmt das Heft
Die Lieder!
Ach, mit dem Dichter träumten selig wir!
Ja, was mein scheuer Mund
Niemals gewagt zu sagen,
Erklingt in ihm, und mein sind seine Klagen,
mit inniger Trauer
Er macht allein sie kund.
liest
"Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit?
Was bin ich aufgewacht?
Dein Hauch will mir die Stirn umkosen,
Doch, ach, der Tag des Welkens ist nicht weit!
Zu bald nur wird der Sturmwind tosen!
Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit?
Und kommt der Wandrer dann herab zu mir ins Tal,
In meiner Schönheit Fülle mich zu schauen,
Sein Blick sucht mich umsonst, erloschen ist der Strahl,
Die Stätte, da ich stand, deckt Nacht und bleiches Grauen.
Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit?"

LOTTE
in grösster Erregung
Es ist genug! Genug! Ach, nur zu wahr!
Wie fühl ich mich so tief erschüttert!

WERTHER
äusch ich mich nicht? Es wird mir klar ...
Die liebe Stimme zittert ...
Das süsse Auge schwimmt in Tränen, ...
Ein geheimes Geständnis fürwahr!

LOTTE
zitternd
O schweigen Sie!

WERTHER
immer heftiger
Was hilft es, länger täuschen noch uns Beide?

LOTTE
flehend
Sie sehn, ich leide!

WERTHER
glühend
Nein, wir betrogen uns, wenn wir besiegt gewähnt
Das lodernde Gefühl, das sich nach Freiheit sehnt!

LOTTE
O Werther!

WERTHER
ausser sich
Nur einen Kuss von Dir!
Den letzten Wunsch des Lebens,
O nicht versag ihn mir!
Für ewig scheiden wir!
Du hast, was himmlisch labt, und schmacht ich noch vergebens?
Nur einen Kuss! Willst Du nicht, dass ich sterbe hier!

LOTTE
fällt, von ihrer Kraft verlassen, auf das Sofa
Ah! Mir vergehn die Sinne!

WERTHER
stürzt ihr zu Füssen
Du liebst mich! ja, Du liebst mich!

LOTTE
stösst ihn weg
Fort, dass ich Kraft gewinne!
Du weisst es, was uns trennt!

WERTHER
stürmisch
Du liebst mich!

LOTTE
immer abwehrend
Erbarmen!

WERTHER
Hör, was Dein Herz bekennt!

LOTTE
Nein!

WERTHER
Kein Wort von Pflichten mehr!

LOTTE
Schone mein!

WERTHER
Weder Zweifel noch Reue, Bedenken, hohl und leer!

LOTTE
Mein Gott, sieh meine Pein!

WERTHER
überschwänglich
Die Lieb ist wahr allein,
Das Andre Trug und Schein!

LOTTE
Beschütze mich!
Der Kampf ist schwer!

WERTHER
Nichts weiter mehr,
Ich liebe Dich!

Sie sinkt in Werthers Arme

LOTTE
sich wieder aufrichtend, ausser sich
Ha!.. Ich!.. Ich!.. Bei ihm! ...

WERTHER
kommt plötzlich zur Besinnung, flehend
Verzeih!

LOTTE
entschieden und wieder bei klarem Willen
Nein, nein! Es ist vorbei!

WERTHER
O Lotte!

LOTTE
mit schrecklichem Vorwurf
Ja Sie!
Sie sind es, den ich flieh'!
Sie, der Sie mich vertreiben!
Sie wolltens so, dass dies das Ende sei!

Sie entflieht und schliesst die Tür hinter sich ab

WERTHER
eilt ihr nach; niedergeschmettert
So weit wär es gekommen!
Nur noch ein Wort! Den Schrei
Des Herzens höre!
Du sollst mir heilig bleiben!
O komm! O komm!
fast gesprochen
Nichts! Alles schweigt! Still wie das Grab!
entschlossen
Wohl, mag es sein! Sie stösst ins Dunkel mich hinab!
in den Vordergrund zurückkommend
Senk in Wolken dein Antlitz, o Sonne!
Dein Kind sagt Dir Valet, denn es kam seine Zeit:
Das Glas ist umgestürzt, der Sand verronnen,
Der Nacht bin ich geweiht!

Er läuft davon

ALBERT
tritt ein, nachdenklich und finster
Zurück kam Werther heut ...
er wirft den Mantel ab
man hat ihn schon gesehen!
befremdet
Wie? Niemand da? Das Zimmer leer, die Türe offen ...
Hier ist etwas geschehn!
Er blickt durchs Fenster, als sähe er, wie jemand sich entfernt; dann wendet er sich nach Lottens Zimmer hin und ruft
He, Lotte, Lotte!

LOTTE
kommt und fährt beim Anblick ihres Gatten zusammen
Ha!

ALBERT
kurz
Was gibt's?

LOTTE
immer verlegener
Ach, nichts ...

ALBERT
dringend
Und so bestürzt, verlegen, ängstlich?..

LOTTE
sucht sich vergebens zu fassen
Die Ueberraschung

ALBERT
misstrauisch, fast heftig
Und wer war eben hier?

LOTTE
stotternd
Hier?

ALBERT
düster
Ja, bei Dir!

Ein Bote bringt einen Brief

ALBERT
dreht sich unwillig nach ihm um
Eine Botschaft?.. Werthers Hand!

LOTTE
mit einem Ausruf der Ueberraschung
Gott!

ALBERT
liest, ohne Lotte anzusehen
"Ich geh auf eine weite Reise, bitte, leihen Sie mir Ihre Pistolen! ..."

LOTTE
für sich, ohne Fassung
Er reist!

ALBERT
weiter lesend
"Mög es Euch wohl ergehen!"

LOTTE
entsetzt
Ob ich es nicht ahnte?

ALBERT
kalt zu Lotte
Gib sie ihm nur!..

LOTTE
fährt zurück
Wer? Ich?

ALBERT
gleichgültig, aber sie fest ansehend
So sagt ich.

LOTTE
geht, wie gebannt von dem Blick ihres Gatten, zum Schreibtisch, wo das Kästchen steht
Dieser Blick!

Albert wendet sich nach seinem Zimmer; ehe er weggeht, wirft er Lotten noch einen langen Blick zu. Lotte, die sich kaum aufrecht erhält, übergibt dem Boten das Kästchen. Der Bote geht. - Albert zerknittert den Brief, den er noch in der Hand hält, und wirft ihn mit zorniger Gebärde weit von sich; dann geht er schnell aus dem Zimmer

LOTTE
nimmt nach kurzer Überlegung ihren Mantel, der auf einem Sessel liegt
Bald werd ich bei ihm sein, und, wills Gott, nicht zu spät!

Eilt in Verzweiflung ab

VIERTER AUFZUG

Werther's Tod

Bei Lotten's letzten Worten senkt sich ein Vorhang herab, der die Stadt Wetzlar in der Christnacht aus der Vogelperspektive sehen lässt. Die von Schnee bedeckten Dächer und Häuser flimmern im matten Licht des Mondes. Mehrere Fenster sind erleuchtet. Das Ganze sieht einsam und traurig aus. Im Zuschauerraume völliges Dunkel. Die Musik spielt bis zur Verwandlung fort. Eine ferne Glocke schlägt. Windeswehen.

Sobald der Vorhang wieder aufgeht, blickt man in Werthers Arbeitskabinett. Auf dem Tische, der mit Büchern und Papieren hedeckt ist, brennt ein dreiarmiger Leuchter mit Reflektor, welcher kaum die nächsten Gegenstände erhellt. Hinten nach links, etwas zur Seite, ein grosses offenstehendes Fenster, durch welches man den Markt, die beschneiten Gassen und Häuser übersieht; das Haus des Amtmanns ist erleuchtet. Hinten rechts eine Tür. Schwacher Mondschein. Im Vordergrunde liegt Werther schwer verwundet auf der Diele hingestreckt.

Die Tür wird aufgerissen. Lotte tritt ein. Sie hält sich am Türrahmen fest, als stocke ihr das Herz.

LOTTE
ruft voller Angst
Werther! Werther!
Sie tritt ängstlich näher; sucht hinter dem Tisch, entdeckt den leblosen Körper Werthers und wirft sich über ihn. Sie schreit laut auf und schaudert plötzlich zurück
Gott! Hier! Das Blut!
Sie kehrt sich wieder zu ihm und nimmt ihn, auf den Knien liegend, in ihre Arme. Mit tonloser Stimme
Nein! Nein! es ist unmöglich!
Gewiss! Ich täusche mich!.. O Werther, Geliebter!
Sprich nur ein Wort! O sprich! ...
Ha, wär es Wahrheit!? ...

WERTHER
öffnet endlich die Augen
Wer redet?
erkennt Lotte
Lotte! Du bist hier!
ohne Stimme
Verzeihe mir!

LOTTE
Ich Dir verzeihn!? Könnt ich mir nur vergeben!
Nahm ich Dir doch das Leben!
Und diese Wunde ... wehe mir! ... Ich schlug sie Dir!

WERTHER
hat sich ein wenig aufgerichtet
Nein!
Für Deine Tat sollst Du gesegnet sein!
mit bald wieder erschöpfter Kraft
Von Deiner Hand empfing ich gern den Tod!
Die Reu erspart er Dir und endete die Not!

Er wird schwach

LOTTE
wie sinnlos zur Türe hin
Hilfe hol ich herbei! Allsogleich!

WERTHER
hält sie zurück und erhebt sich auf ein Knie
Lass! Was soll es noch nützen!
Jede Hoffnung entschwand!
Er stützt sich auf Lotte und steht auf
Gib nur Deine liebe Hand!
lächelnd
Sieh: Andre Hilfe brauch ich keine
Als die Deine!
Er legt die Stirn auf Lottens Hand; mit süssem, fast kindlichem Ausdruck
Und dann: kein Fremder trete zwischen uns,
Wir sind vereint!
So lässt es süss sich ruhen!
ihre Hand haltend
Einst wollt ich glücklich werden, und ich bin es nun.
Noch einmal loht durchs Herz das alte Feuer!..

LOTTE
mit zärtlicher Leidenschaft
Ich darf gestehn, dass du mir teuer,
Seit jenem Tag, da Dich zuerst mein Auge sah!
Die Glut hielt ich zurück, die heiss mich überdrang,
Doch fern auch warest Du mir nah!
Weil mich die Fessel zwang
Konnt ich Dich nicht erhören ...
Ach, wem bracht es Gewinn?
schluchzend
Wofür gab ich Dich hin?

WERTHER
O rede weiter! Sprich! Lass Dich beschwören!..

LOTTE
fährt trotz ihrer tiefsten Erschütterung fort
Nun, da Du sollst erblassen,
Will ich Dich nimmer lassen!
mit Inbrunst
Ja, Deinen Kuss, mein lieber Freund
Geb ich Dir jetzt zurück!

BEIDE
Fort mit Langen und Bangen,
Klagen und Zagen!
Vorbei sind Trauer und Sorgen!
Heute lacht uns das Glück
Und erwartet kein Morgen!

In den Becher der Leiden
Fällt die Perle der Freuden,
Und es verrauschen die Wogen der Zeit
Sanft in die Ewigkeit.

Alles Sehnen gestillt,
Alles Wünschen erfüllt!
Alles, was uns entzweit,
Liegt nun so weit, so weit!

Lärm und Gelächter in der Ferne. Die Stimmen der Kinder von weitem aus dem Hause des Amtmanns

DIE KINDER
O Nacht, o Weihenacht des Heils!

LOTTE
schmerzlich lauschend
Der alte Sang!
Verhasst ist mir der heitre Klang.

Sie kehrt vom Fenster zu Werther zurück

DIE KINDER
Christus ward geboren,
Der zum Heiland Euch erkoren,
Hirten Ihr von Israel!

WERTHER
erhebt sich ein wenig, in einer Art von Sinnestäuschung
Sinds die Kinder.. sind es Engel?
O horch, es ist das Lied der Gnade!
Gott hat den Sohn entsandt
Auf unsres Lebens Pfade.

LOTTE
von Werthers Phantasien erschreckt
Geliebter!

WERTHER
immer vergeistigter
Warum weinen?
Nein, freue Dich und sieh mich an!
Du glaubst, mein Leben endet?
Er erhebt sich in plötzlicher Entzückung
Kann es wohl enden, da es erst begann?

SOPHIENS STIMME
vom Hause des Amtmanns her
O komm, du heilige Nacht,
Die uns das Licht gebracht!
O heilige Nacht,
Uns zur Freude gemacht!

Werther, der bisher aufrecht gestanden, lehnt sich plötzlich mit weit geöffneten Augen an den Sessel und lässt sich mit einem lauten Seufzer in denselben fallen

LOTTE
die ihn mit Angst betrachtet
Ha, starr sind seine Augen!
Kalt die Hände! ...
voll Schreck
Das ist der Tod!
Er stirbt! Das ist das Ende!
schluchzend
Es soll nicht sein!..
Weh! So bald! So bald!
jammernd
Nur noch ein Wort!
Der Tod kennt kein Erbarmen!
drückt Werther zärtlich an sich
So reiss er mit Gewalt
Dich weg aus meinen Armen!
in der grössten Aufregung
Er entweicht! Er ist fort!
flüsternd
Er wagt sich nicht an Dich ...

WERTHER
im Lehnsessel, mit erlöschender Stimme
Geliebte, nein, ich geh ... von.. Dir ...
Doch höre mich:
Fernab im Friedhof ist ein Platz,
Zwei Linden stehen dort,
Da sass ich oft allein ...
O merke Dir den Ort!

LOTTE
laut aufschluchzend
O still! Nichts mehr!

WERTHER
Wenn man ihn mir verwehrt,
Und wenn kein ehrlich Grab
In heil'ger Erde würde mir beschert ...
Am Wege durch das Waldtal, tief im Schatten,
Mögt Ihr mich dann bestatten!
Und kehrt der Priester auch erzürnt die Augen ab ...

LOTTE
für sich
Er durchbohrt mir die Seele!

WERTHER
fortfahrend
Ein Weib wohl kommt gegangen
Zum stillen Hain herab,
Besucht den toten Freund,
Und eine heisse Träne
Schleicht über ihre Wangen ...
Geweihte Tropfen fallen
Auf des Verfehmten Grab ...

Seine Stimme stockt, er ringt nach Luft, dann fallen seine ausgebreiteten Arme zurück, er neigt das Haupt und stirbt

LOTTE
mit Entsetzen
Ach!

Sie kann das Furchtbare nicht fassen und hält den Kopf Werthers mit den Händen

DIE KINDER STIMMEN
in der Ferne
O Nacht, der Weihe Nacht!..

LOTTE
verzweifelt
Zuviel!.. Ach!..
Es ist vollbracht..

Sie fällt ohnmächtig vor dem Sessel nieder. Der Vorhang senkt sich langsam. Gelächter, Gläserklingen, fröhliche Ausrufe