Tiefe Abgründe des Unbewussten

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (19.02.2008)

Genoveva, 17.02.2008, Zürich

Opernhaus: Robert Schumanns «Genoveva» zum ersten Mal auf der Zürcher Bühne.

Sie hat seit je einen schlechten Ruf: eine misslungene Oper auf einen unsäglichen Text. Nun verhelfen ihr Nikolaus Harnoncourt und Martin Kusej endlich zu ihrem Recht - mit nachhaltigem Erfolg.

Vielleicht ist die Handlung von Schumanns «Genoveva» (konzipiert nach den gleichnamigen Tragödien von Tieck und Hebbel) wirklich «von beschränktem Reiz», wie der Germanist Peter von Matt einräumt. Vielleicht aber, gilt es weiter zu bedenken, liegt derjenige falsch, der in diesem Werk überhaupt eine Handlung sucht. Nikolaus Harnoncourt jedenfalls ist überzeugt, dass es solche falschen Erwartungen sind, die den Blick auf das Eigentliche dieses Werks verstellen. Es ist nicht die Handlung, welche die Oper trägt, sondern es ist im Gegenteil das nicht Fassbare, das nicht auf herkömmliche Art «Darstellbare», das die ästhetische Struktur dieses Werks ausmacht. Ein «Blick in die Seele» sei es, eine Aneinanderreihung von Zuständen und inneren Befindlichkeiten. Um Bilder und Spiegelbilder geht es in «Genoveva», um Welt und Gegenwelt, Ordnung und Chaos. Dass sich solche psychologischen Dimensionen nicht im Rahmen eines konventionellen Kreuzritterdramas - was «Genoveva» rein äusserlich gesehen ist - inszenieren respektive versinnbildlichen lassen, liegt auf der Hand. Fragt sich also, wie man da zu Werke geht, ohne dem Werk Gewalt anzutun.

Aktiver und passiver Weltbezug

Rolf Glittenbergs Bühne erinnert an ein Spital-Labor - vielleicht ein Vorraum zu einem Operationssaal, im Innern klinisch weiss ausgeschlagen, mit nichts als einem Lavabo samt Spiegel darüber und einer Tür im Hintergrund. Dieser Bühnenraum wird gleichsam als «Guckkasten» auf die grosse Bühne gestellt, die ihrerseits nachtschwarz und in ihrer räumlichen Umrissenheit entsprechend nicht auslotbar ist. Je nachdem, wo sich das Dargestellte nun abspielt, im weissen oder im schwarzen Raum, gewinnt es eine blendende, fast messerscharf schmerzliche Umrissenheit oder verbleibt im verdunkelten Vagen. Damit werden zwei einander entgegengesetzte Daseinsbefindlichkeiten visualisiert, einerseits in den Grenzen einer genau objektivierbaren Ordnung und andererseits im entgrenzten, dunklen Bereich der totalen Orientierungslosigkeit.

Zustände also sind es, die Regisseur Martin Kusej zeigt und inszeniert; vier Menschen - Genoveva, ihr Gatte Heinrich, Golo und dessen Amme Margaretha -, die unentwegt auf der Bühne sind, auf Situationen reagieren oder ihnen ausgeliefert sind. Aktiver und passiver Weltbezug manifestiert sich so, für die Romantik seit Goethes «Werther» eines der zentralen Themen. Die pantomimischen «Vorspiele» zu jedem der vier Akte scheinen genau das auch zu meinen - sei es, dass es die vier Protagonisten vor (stummem) Lachen nur so schüttelt, oder dass sie sich verzweifelt gegen Ungeziefer wehren, von dem es auf dem Boden nur so zu wimmeln scheint. Innere Vorgänge da wie dort, der Seinsebene mehr zugehörig als dem Bewusstsein.

Grenzen und Entgrenzung

Wenn Golo sich plötzlich auf Genoveva stürzt, wird anhand solcher bildlicher Konstellationen sofort klar: Hier hat die alles entgrenzende Liebe von einem Menschen total Besitz genommen. In einer Welt, die auf Ordnung bedacht ist, kann das nur noch Chaos bedeuten: «Es fällt ihn Wahnsinn an», sagt Genoveva. Blut fliesst, die weissen Wände werden mehr und mehr damit beschmiert - Zeichen dafür, wie die Welt einer bewussten Ordnung reagiert, wenn man von den Abgrundtiefen des Unbewussten übermannt wird.

Das alles bleibt nicht ohne Wirkung, zumal es von Martin Kusej mit schnörkelloser Direktheit inszeniert wird, Bild für Bild, und das ganze Geschehen im Verlauf des Abends an dramatischer Dichte, aber auch an seelischer Abgrundtiefe zusehends gewinnt. Ein Höhepunkt in der Führung seiner Protagonisten bildet zweifellos das Schlussduett, wenn sich Genoveva, zu Unrecht der ehelichen Untreue angeklagt, mit Heinrich wiederum in «Lieb und Treu» zu «Ruh' und Glück» versöhnt - und sie dabei genau von denselben momentanen Schwinden ihrer Sinne befallen wird wie zu Beginn der Oper, als sich ihr Gatte von ihr verabschiedete und in den Krieg zog. Hier schliesst sich ein Kreis, und dass aus so viel Stereotypie kein Ausbrechen möglich zu sein scheint, ist die bedrückende Botschaft dieser denkwürdigen Inszenierung.

Musikalisch faszinierend

Mit demselben bedingungslosen Ernst geht Nikolaus Harnoncourt an Schumanns Musik heran, schärft Akzente in der orchestralen Textur und legt gleichzeitig auch ihre fein gewobenen Verletzlichkeiten offen. An Klarheit und geistiger Genauigkeit ist das kaum zu überbieten, und gleichzeitig vollbringt Harnoncourt mit dem Orchester der Oper Zürich hier wahre Wunder an Empfindung und seelischem Tiefgang. Unvergleichlich ist der erregt wogende und schmerzlich drängende, zuweilen auch melancholisch depressiv eingefärbte Ton.

Das Vorurteil, Schumann habe nicht wirklich professionell orchestriert, scheint hier wie weggeblasen. Immer wieder lässt der Reichtum der Klangfarben aufhorchen, und Schumanns (und Harnoncourts) Umgang mit Melodien und Motiven sowie die ganz eigene «Sprache» des instrumentalen Kolorits haben etwas ungemein Faszinierendes. Juliane Banse ist eine ideale Genoveva, und das in jeder Hinsicht. Die Intonationsreinheit ihres wohllautenden Gesangs korrespondiert eindrücklich mit der Reinheit von Genovevas Seele, und die Schwerelosigkeit ihrer schauspielerischen Gestaltung, die Intensität auch der seelischen Durchdringung entzieht diese mythische Figur allem Fassbaren. Da hat Shawn Mathey als Golo einen schweren Stand. Relativ eng wirkt sein Tenor und in der Höhe wohl zu offen; zudem gelingt es ihm nicht wirklich, die musikalischen Bedeutungsnuancen aus dem gesungenen Text heraus zu entwickeln. Martin Ganter ist ein imposanter Heinrich und gleichzeitig - in dieser souveränen Darstellung - ein Mensch, vor dem man flüchten möchte.

Cornelia Kallisch geht als Margaretha stimmlich an Grenzen, bewältigt die Partie aber eindrücklich, vor allem durch ihre gestalterische Intensität. Alfred Muff als treuherziger Drago und Ruben Droll als forsch forcierender Hidulfus ergänzen das Ensemble zu einem packenden Ganzen. Dazu gehören mit wichtigen Aufgaben auch Chor und Zusatzchor des Opernhauses, von Ernst Raffelsberger kompetent einstudiert. Grosser Applaus für alle; die vereinzelten Buh-Rufe für den Regisseur gingen in lautstarken Bravo-Salven unter.