Was, bitteschön, ist eigentlich eine Oper?

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (19.02.2008)

Genoveva, 17.02.2008, Zürich

Martin Kusej und Nikolaus Harnoncourt pumpen frisches Blut in Schumanns verkannte «Genoveva»

Häufig totgesagt und öfter mal wiederbelebt – Robert Schumanns Oper «Genoveva» erlebt am Zürcher Opernhaus eine neuerliche Renaissance.

Auf der Bühne viel Lebenssaft und im Orchestergraben viel Bläserkraft – es war nicht der erste und wohl auch nicht der letzte Versuch, ein sogenannt unopernhaftes Werk zum Bühnenleben zu erwecken. Doch was heisst da opernhaft und was nicht? Die Definitionshoheit liegt doch wohl bei den musikalisch Kreativen, und das sind weder die Musikhistoriker und Musikkritiker noch die Operndirektoren und Dirigenten.

Gut also, dass man in Zürich dem genialen Komponisten Robert Schumann vertraut und seine 1850 in Leipzig – gute zehn Jahre vor der musikalisch verwandten «Elisabeth-Legende» von Franz Liszt – ohne nachhaltigen Erfolg uraufgeführte «Genoveva» ins Opernprogramm aufgenommen hat. Auch wenn jetzt etliche Klugschreiber verkünden werden, dass das halt doch keine so ganz richtige Oper ist.

LAVABO. Warum denn nicht? Zu einer wahren Oper gehören doch zweierlei: eine gewisse Unwirklichkeit und Blut, viel Blut. Von beidem besitzt die Zürcher Produktion mit Martin Kusej am Regie- und Nikolaus Harnoncourt am Dirigentenpult genug. Blut rinnt die weissen Wände hinab, schwappt über die Ränder eines Lavabos, über dem ein für die Handlung nicht unwichtiger Spiegel hängt, Blut spritzt aus Armen und fliesst aus dem Unterleib des negativen Helden, nach dem diese Oper auch benannt sein könnte: Golo.

Der Haushofmeister des Pfalzgrafen Siegfried darf nicht mit auf den christlichen Kreuzzug seines Herrn, er soll stattdessen auf des Grafen Gattin Genoveva aufpassen. Diesen Auftrag nimmt der stürmische Golo nur allzu wörtlich. Kaum ist der Chef aus dem Haus, macht sich der Musterknabe liebestoll über die Engelsgleiche her. Da sich diese ihm verweigert, spinnt er mit Hilfe der Zauberin Margaretha eine Intrige, welcher die keusche Genoveva fast zum Opfer fällt, nachdem das Volk – Regisseur Kusej zeichnet es als schwarzgesichtig, selbstgerecht, dumpf – sie fälschlicherweise der Untreue bezichtigte. Das Happy End in letzter Minute ist so gestrickt, wie man es nur im Hollywood-Kino oder eben in der Oper antrifft.

LIBIDO. Trotz des Theaterbluts, der Kreuze, Schwerter und Äxte setzt Regisseur Kusej auch auf die Einbildungskraft. Er erzählt die vieraktige Geschichte in einem Einheitsbühnenbild (Rolf Glittenberg) ganz aus der Optik Genovevas. Und für die ist Siegfried immerdar im Geist präsent, ebenso wie Genoveva für ihn auch dann da ist, wenn die beiden geografisch weit entfernt sind.

Deshalb kann Pfalzgraf Siegfried auch dann auf der Bühne stehen, als er eigentlich längst über alle Berge ist, um den Heidenvölkern das Christentum einzuprügeln. Aus demselben Grund liegt Genoveva blutverschmiert auf der Bühne, wenn die böse Margaretha als Heilkräuter-Zauberin den verletzten Siegfried in Strassburg heimsucht (die Regie deutet dies klar als Fellatio). Man braucht also ein klein wenig Fantasie, um der Erzählung folgen zu können – und wird dafür mit einem Opernabend belohnt, der zu den bemerkenswerteren der letzten Monate zu zählen ist.

LYRISMUS. Das liegt auch am Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der sich im Konzert und auf Platte wiederholt für «Genoveva» engagiert hat (vgl. das Kulturmagazin vom 14. Februar). Harnoncourt liebt den lyrischen Grundton Schumanns ebenso wie den Stilpluralismus einer Partitur, in der Kirchengesang, Liebesgeflüster, Hexengeschrei und grober Volkston nebeneinander Platz finden.

Für die Zürcher Aufführung hat man ein hoch qualifiziertes Sängerensemble zusammengetrommelt: Juliane Banse in der mit intensivem Ausdruck beseelten Titelpartie, Cornelia Kallisch als durchdringende Margaretha (der eine Spur mehr Hexenhaftigkeit à la Marjana Lipovsek in der Plattenaufnahme unter Harnoncourt gut täte), Shawn Mathey als tenoral ebenso geschmeidiger wie beklemmender Golo und Martin Gantner als nobler, in der Tiefe allerdings etwas schmaler Siegfried-Bariton.

Das Zürcher Opernorchester rückt mit ventillosen Naturhörnern an und klingt entsprechend rau, was die klangliche Frische und Intensität verstärkt, und die von Ernst Raffelsberger einstudierten Chöre bringen Schumanns Chorsätze so markant wie nur irgend möglich herüber.