Christian Berzins, Aargauer Zeitung (19.02.2008)
Opernhaus Zürich: Robert Schumanns selten gespielte Oper «Genoveva» bewegt - im Positiven wie Negativen.
«Umstritten», heisst nicht, dass etwas gut ist. Aber kein Zürcher Premierenabonnent soll sagen, dass ihn dieser Opernabend kaltgelassen hat. Im Opernhaus, wo man hingeht, um zu schwelgen, manche auch, um zu dösen, war am Sonntagabend eine grosse Angespanntheit zu spüren - direkte Publikumsreaktionen blieben nicht aus. Umso erstaunlicher waren diese Reaktionen, da doch eine vermeintlich langweilige, unspielbare und deswegen vergessene Oper gegeben wurde: Robert Schumanns 1850 uraufgeführte «Genoveva».
Die Grundlage ist ein Volksmärchen, das gestrickt wurde, um die vorherrschende Moral zu unterstreichen: Ein Ehemann zieht in den Krieg; kaum aus dem Haus, wird seine Frau von ihrem Beschützer bedrängt, aber nicht erhört, worauf dieser eine Intrige spinnt. Dem Ehemann wird zugetragen, dass seine Frau untreu sei. Er befiehlt, sie zu töten. Kurz vor Vollstreckung kehrt der Ehemann heim und erkennt seine Schuld. Der Jubelchor setzt an, der tapfere Krieger wird gefeiert.
In diesem Chor nimmt ein dreistündiges Hörwunder sein Ende, das viel mehr als ein spannendes Nachzeichnen von Partiturlinien ist. Dirigent Nikolaus Harnoncourt lässt das Orchester im Jubelchor dermassen hart und schroff spielen, dass die Heilrufe wie Peitschenhiebe klingen und so kommendes Unheil geradezu ankünden. Der Beginn der Oper ist nicht minder packend und aufwühlend: Harnoncourt schärft die Kanten nicht nur, sondern formt sie aus: kleine Bassmotive werden zu bösen Blitzen, sehnsuchtsvoll brüchig-bebend steigen die Liebesmotive auf, bald laufen ganze Phrasen ins Leere. Nach der Ouvertüre kann erahnt werden, was geschehen wird, wenn ein Regisseur in diese unheimliche Musik, die Büchse der Pandora, hineinhört und dann die Handlung in Szene setzt.
Im Programmheft warnt Regisseur Martin Kusej vor falschen Erwartungen: «Alles, was hier passieren wird, entspringt der Fantasie und den Gefühlen dieser Individuen.» Harmlos beginnt dieses Spiel: Ein weisser Raum, darin stehen vier Personen › rundherum scheint Nacht zu herrschen. Unschwer ist zu erkennen, wer wen darstellt; es kann Partei ergriffen werden. Aber hat Kusej nicht davor gewarnt? Er schreibt: «Es liegt nahe, dass es Schumann nicht um theatralische Personen geht. Sie erklären ihre Psyche nicht, die Figuren sind keine Personen, sondern Haltungen, Anteile einer Persönlichkeit, Facetten eines Menschen. Wenn wir also theatralische Personen suchen, sind wir auf dem falschen Weg. Das Ziel ist es, eine Situation zu malen und gleichzeitig zu beobachten.» Also weg mit der Idee von Identifikationsfiguren.
Hier gibt es keine «Bösen», keine «Guten» › das Böse allerdings sehr wohl. Kusej hilft nach, damit nicht doch falsche Gefühle aufkommen, die aus der Handlung entstehen. Wie der Fisch, der plötzlich von Hand zu Hand rutscht, kann bald kein Handlungsstrang mehr festgemacht werden: Der Abschied des Hausherrn wird mehrmals wiederholt, mehrmals fällt die Ehefrau standesgemäss in eine kleine Ohnmacht. Ist er abgereist, öffnen sich die Menschenabgründe. Der Beschützer wirft sich auf die Ehefrau, kurz darauf singen die beiden schon wieder zusammen ein nettes Liedchen. Die Grenzen verschwimmen. Draussen tobt derweil ein anderer Kampf. Dunkle Chorgestalten, mit Gewehr und Beil bewaffnet, künden davon. Drinnen wirds verworrener, Brutalität, Aggressivität nehmen zu: Einem Opfer wird brutal die Kehle aufgeschlitzt. Das Blut spritz so grauslich an die Wand, dass man sich fragt, warum nur im Kino über Altersbeschränkung diskutiert wird.
Wird dem Publikum mit den biedermeierlichen Kostümen noch ein Wink gegeben, in welcher Zeit man ist, wird im Folgenden immer mehr ins Zeitlose, in Martin Kusejs dunkle Fantasien abgetaucht. Blut- und Schmutzspuren zeichnen den Weg. Schumanns Werk verschwindet. Wo so viel Porzellan zerschlagen wird, gibt es keinen Weg zurück in die heile Welt. Das Volk bringt zum Schlusschor ein Dutzend Marienstatuen auf die Bühne. Ein Wunder, dass sie nicht zu weinen beginnen.
Die Saalschlacht bleibt trotz provokativer Szenen aus: Beim Erscheinen des Regisseurs kommt es dennoch zum kurzen Buh-Bravo-Gefecht. Das grossartige Sängerensemble › wie auch nicht? › erhält ungeteilten Applaus für seine sängerische wie darstellerische Höchstleistung: Juliane Banse (Genoveva), Shawn Mathey (Golo), Martin Gantner (Siegfried), Cornelia Kallisch (Margaretha) oder Alfred Muff (Drago). Und naturgemäss auch der unermüdliche Antreiber Nikolaus Harnoncourt, für den mit der szenischen Umsetzung von «Genoveva» ein Lebenswunsch in Erfüllung ging. Was er mit seiner «grossen Sinfonie» entfacht, macht die Bilder fast überflüssig.