Christian Fluri, Aargauer Zeitung (10.03.2008)
Regisseur Philipp Stölzl erzählt Gounods Oper «Faust» als Tragödie Marguerites und aus heutiger Sicht. Er schafft teils starke, teils üppige Bilder.
Die tote Marguerite - gebunden auf den Hinrichtungsschragen - erscheint. Ein gebrochener Faust zieht den Schragen. Regisseur Philipp Stölzl lässt das Bild zur Ouvertüre von Charles Gounods romantischen Oper «Faust» (1859) am Theater Basel mittels der Drehbühne rückwärts laufen. Die Tragödie der Marguerite wird im Rückblick erzählt. Ein todkranker Faust, gefesselt an die technischen Spitalgeräte, durchlebt in der Erinnerung, wie er Marguerite verführt, geschwängert und ins Elend gestürzt hat. Und Mephisto ist nicht eigenständiger, böser Geist, sondern Fausts dunkle Seite, gezeichnet als sein Ebenbild.
Die Zeitreise zurück starten die beiden in einem Autoscooter. Der führt sie in Bilder der Kindheit und Jugend: auf den Jahrmarkt der Gefühle, wo Marguerite als Rollschuhmädchen Herzballone verkauft und ihr Verehrer Siebel Lebkuchenherzen. Das ist die Welt der Illusionen von Glitzer und Glanz, ebenso wie die der tristen Einsamkeit. Stölzl lässt «Faust» auf einem Karussell spielen: Es ist eine Art Mikrokosmos, der sich unerbittlich um die eigene Achse dreht. Die Menschenmenge zeichnet er als Erwachsene mit Kinderköpfen › sie steht als Masse den individuellen Hauptfiguren gegenüber. Das gibt der Inszenierung etwas Märchenhaftes, das zu Gounods romantischer Anlage passt. Zugleich wirken die Menschen in Kindermasken wie emotionslose Monster. Eine Gesellschaft nicht erwachsen gewordener Menschen bewegt sich zwischen diesen Polen. Stölzl schafft mit dem Chor starke Bilder mit Zitaten aus der Kunst- und Filmgeschichte. Ob Soldaten in den Krieg ziehen oder als Krüppel heimkehren, ob die Menge sich vergnügt oder später Marguerite ausgrenzt, stets ist latente Gewalt spürbar.
Faust und Mephisto stecken im Glitzeranzug: zwei Glänzer aus der Halbwelt. Diesem Faust ist das Streben nach letzter Erkenntnis fremd. Schon Gounod fokussiert auf die Gretchen-Tragödie; Stölzl und Dirigent Enrico Delamboye tun es mit Kürzungen und Umstellungen noch mehr.
Fausts Begehren ist hier das nach einer Lolita. Entsprechend ist die Marguerite gezeichnet. Faust selbst erscheint sowohl als verliebter Gockel wie als gieriger Rüpel. Stölzl verliert sich da im Plakativen. Sein Faust ist ein vergnügungssüchtiger Egozentriker, im Innern vom eigenen Elend geplagt: ein Mann von heute. Nur wird da die Geschichte der poetischen Figur Faust nicht mitreflektiert. Ebenso ist die Figur Mephisto als Fausts Alter Ego zu eng gesehen.
Seine Stärke zeigt Stölzl in der Tragödie der Marguerite, wie er ihr Leiden, ihre Verzweiflung darstellt. Die Walpurgisnachtszene wird zu ihrer Flucht in den Wahn, initiiert durch die Geburt und Ermordung ihres Kindes. In ihrer Vorstellung erlebt sie eine üppige Hochzeitsszenerie. Doch sie bleibt zuletzt allein in der kalten Öde mit dem toten Baby. Das Schlussbild im Gefängnis, das mit der Hinrichtung und Fausts Verzweiflung, den katastrophischen Kreis zum Anfang schliesst, erschüttert.
Stölzls Bilder zu «Faust» sind klar und perfekt choreografiert. Aber sie haben einen Hang zur Üppigkeit. Und Vereinfachungen, Klischees stören in der Regie des Musikvideo-Filmers, der mit Stars wie Mick Jagger und Madonna gearbeitet hat.
Enrico Delamboye setzt in seinem Dirigat auf Durchsichtigkeit (gespielt wird die vieraktige Fassung). Doch das Spiel des Sinfonieorchesters Basel unter ihm bleibt in den lyrischen Passagen teils uninspiriert und fahrig. Erst mit Marguerites Leiden gelangt die Dramatik zur Entfaltung. Lebendigkeit und Spannung bringt hingegen der Gesang. Die Sopranistin Maya Boog brilliert und berührt als Marguerite. Bass Stefan Kocán ist ein agiler, fieser Mephisto. Rolf Romei gefällt in den lyrischen Passagen, gerät aber an seine stimmlichen Grenzen. Grossartig, packend singt wiederum der erweiterte Theaterchor.