Tobias Gerosa, Blick (25.03.2008)
Da reiben sich selbst hartgesottene Opernfans die Augen: Am Samstag lässt der Dirigent bei der Premiere von «Wozzeck» das Orchester sitzen.
Samstagabend, Stadttheater Bern. Die zweite von 15 Szenen der Oper «Wozzeck» von Alban Berg (1885-1935) ist gespielt. Dann verstummt das Orchester, die Sänger gehen ab. Nach ein paar ratlosen Minuten tritt Marc Adam, Intendant und Regisseur der Oper, auf die Bühne: Aus «Gründen musikalischer Uneinigkeit» habe Dirigent Roman Brogli-Sacher den Orchestergraben verlassen - mitten im Stück. Was ist passiert? Haben sich Dirigent und Orchester verkracht? So wirkt es jedenfalls (siehe Interview).
Nach einer Viertelstunde gehts wieder weiter. Das Orchester habe sich entschuldigt, berichtet Marc Adam. Dirigent Brogli-Sacher wird mit heftigen Buhs empfangen. Er lässt sich auf einen Wortwechsel mit dem Premierenpublikum ein («Soll ich jetzt anfangen?» - «Nein!»), doch erst der Zwischenruf «Ihr seid Profis, verdammt!» bringt schliesslich Ruhe. Die Oper beginnt vierzig Minuten nach offiziellem Beginn von vorne.
Konflikte gehören zum Theateralltag. Doch nicht einmal Laienbühnen tragen sie erst bei der Premiere und vor dem Publikum aus. Wenigstens das Publikum bewies Fairness: Für seine Trotzreaktion buhte es Brogli-Sacher aus, für seine klar strukturierte, aber gar langsame und aus Zuhörerperspektive differenziert laute Interpretation von Bergs expressionistischem Meisterwerk bekam er Applaus.
Die Buhs am Schluss gingen an Adam und seine Ausstatter. Die kahle Bühne wirkt zunächst modern, doch Adam erzählt die Geschichte des Soldaten Wozzeck, der von Hauptmann, Arzt und Tambourmajor zum Mord an seiner Frau Marie getrieben wird, konventionell und wörtlich dem Text nach. Das Ensemble um die beiden Hauptpartien agiert hölzern. Es liegt in Bern an Vincent Le Texier (Wozzeck) und Mardi Byers (Marie) deutlich zu machen, warum «Wozzeck» der Opernklassiker des 20. Jahrhunderts ist.