«Der Mensch ist ein Abgrund»

Herbert Büttiker, Der Landbote (25.03.2008)

Wozzeck, 22.03.2008, Bern

Mit Alban Bergs «Wozzeck» hat der neue Intendant des Stadttheaters eine seiner Lübecker Produktionen nach Bern geholt: ein lohnendes Unterfangen, wie der eindrückliche Abend zeigte – nach einem Eklat im zweiten Anlauf.

Nach der zweiten von insgesamt fünfzehn Szenen wars fürs Erste einmal aus. Roman Brogli-Sacher legte den Stab nieder und verliess den Orchestergraben. Der Schweizer Dirigent, seit 2001 Generalmusikdirektor und jetzt auch Operndirektor in Lübeck, mochte sich sein Debüt in Bern anders vorgestellt haben. Nach einer längeren Unterbrechung übermittelte Marc Adam, Intendant und Regisseur des «Wozzeck», eine Entschuldigung des Orchesters gegenüber dem Dirigenten und dem Publikum. Trotzdem war es der Dirigent, der es mit Unmut im Saal zu tun bekam, als er wieder vor dem Orchester erschien, seltsam, und ebenso kurios war der starke Protest, als verlautete, man werde nochmals von vorn beginnen. Wo man doch glaubte, schon 20 Minuten «Wozzeck» hinter sich gebracht zu haben ...

Hatte man, aber wie? Der zweite Anlauf macht gleich klar, worum es gegangen war: Das Orchester hatte auf Sparflamme gespielt. Jetzt herrscht Prägnanz allenthalben, und schnell wird klar, was der vehementere Einsatz mit musikalischer Eindringlichkeit und musikalischer Sinnerfüllung zu tun hat, vom Piano ins Forte, vom Solo zum Tutti. Jetzt schafft der Klang Wirklichkeit, die Wirklichkeit von Wozzecks panischer Angst etwa, wenn er vom «Getös» deliriert, das herunterfährt «wie Posaunen», und Berg dazu eben die Pauken hämmern und ein Crescendo von Becken, grossem Tamtam, grossen und kleinen Trommeln ins dreifache Forte anschwellen lässt.

Was immer sich im Vorfeld der Aufführung abgespielt und dazu geführt hat, dass das Orchester nicht so aufs Ganze gehen wollte – die grosse Besetzung, die Akustik im kleinen Haus, die Klangschärfen, die Lärmbelastung, die zum Berufsrisiko für Musiker geworden ist, all das sind ja nachvollziehbar gewichtige Probleme – klar war nach der Wiederholung der ersten beiden Szenen, dass der Dirigent als Anwalt des Werks mit allem Grund ein Dacapo mit neuen Spielregeln verlangt hatte.

Das schliesst den Eindruck nicht aus, dass mit zu rasch erreichten dynamischen Spitzen im Orchester und zu viel Forte auf der Bühne (gerade was die Figur des Wozzeck angeht) die idealen Klangverhältnisse mit der Premiere (noch) nicht durchwegs erreicht waren. Hinzu kommt, dass auch die Inszenierung zur akustischen Problematik beiträgt: Die Interieur-Szenen (Maries Zimmer, die Kneipe, der Schlafsaal in der Kaserne) liegen hinter einer bedrohlich grossen, sich partiell öffnenden Rückwand sehr im Hintergrund.

Zwischentöne mit Schärfen

Allerdings hat Jean Bauers Bühne auch ihre hervorragende Qualität, weil sie sowohl die realen Schauplätze wie auch den mächtigen Stimmungsraum im Auge behält. Die Anlage, die der Erzählung in klar gegliederten Szenen wie der Einheit einer expressiven Stimmung – am Ende wird die Wand zur schweren Decke – entgegenkommt, wird von Marc Adams Regie für ein konzentriertes Spiel genutzt, das Figuren und Beziehungen profiliert herausarbeitet, bildstark und direkt. Am Werk ist auch ein starkes Sängerteam: Vincent Le Texier als Wozzeck für einen robusten und zugleich entgeisterten, wenn auch musikalisch nicht sehr differenzierten Wozzeck, Mardi Byers als Marie, die zwischen mütterlicher Wärme und Hysterie alle Zwischentöne, auch mit Schärfen, zeigt, Fabrice Dalis als berührender Andres, dann John Uhlenhopp (Tambourmajor), Matthias Grätzel (Hauptmann), Frode Olsen (Doktor) und kleinere Partien, die bei aller Satire als reale Menschen auf der Bühne stehen.

«Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut»: Was Wozzeck sagt, lässt der Blick auf die Wozzeck-Bühne auch in dieser Produktion eindringlich erleben, und ihr ganzes Potenzial hat sie an diesem schwierigen Abend vielleicht noch nicht einmal zur Wirkung gebracht.