Klangmauern und Symbolfenster

Hanspeter Renggli, Der Bund (25.03.2008)

Wozzeck, 22.03.2008, Bern

Zwischen Eklat und Anerkennung: Die Premiere von Alban Bergs «Wozzeck», inszenziert vom Intendanten Marc Adam.

Bei der Premiere von Alban Bergs «Wozzeck» kam es am Ostersamstag im Berner Stadttheater zu einem kleinen Opernskandal: Nach zehn Minuten verliess der Dirigent Roman Brogli-Sacher entnervt das Pult. Schliesslich kroch das Orchester zu Kreuze, und die Vorstellung wurde gerettet.

Der Abend beginnt vielversprechend: Dies liegt natürlich am Stück, an Alban Bergs «Wozzeck», dem in jeder Hinsicht faszinierendsten Werk des Musiktheaters nach Wagner. Das Publikum wird gleichsam ins Geschehen geworfen, in eine direkte und verklausulierte Sprache, und die Musik offenbart vom ersten Takt an ihre vielgliedrige und symbolkräftige Ausdruckspalette.

Vielversprechend beginnt am Samstag auch die Berner Aufführung: ein alltägliches Geschäft vorerst, ein Soldat rasiert seinen Hauptmann. Vincent Le Texier als Wozzeck, der sich ob den Nöten des Lebens nicht um die Moral der Grossen kümmern mag, und Matthias Grätzel als Hauptmann mit seinem moralin-dümmlichen Philosophieren führen sängerisch überzeugend ins Zentrum des Geschehens. Und im Orchestergraben entwickelt sich ein brillantes Motivspiel, das in grossartig interpretierte Kadenzen (Viola, Kontrafagott) mündet.

Grosse Lärmbelastung

Nach zwei Szenen jedoch ist der Faden gerissen. Der Dirigent Roman Brogli-Sacher verlässt das Pult, und eine längere Unterbrechung entsteht, bis Marc Adam, Intendant und Regisseur des Abends, eine viertelstündige Pause verordnet – zur Klärung der Klangbalance zwischen Dirigent und Orchester! In dieser Pause kommen die beiden Seiten überein, die Aufführung neu zu beginnen. Es folgen Pfiffe, auch Applaus. Der Dirigent, ein Schweizer mit Karriere hauptsächlich in Deutschland, scheint sich zumindest für die Dauer der Premiere durchgesetzt zu haben, ansonsten hätte er, wie später zu vernehmen war, die Leitung hingeschmissen und das Haus postwendend verlassen.

Was ist geschehen? Das Orchester wendet sich gegen die gesundheitsschädigende Lautstärke im Graben, der Dirigent hält an seinem Konzept einer expressiven und klanglich massiven Interpretation fest. Bern hat seinen kleinen, aber leider für alle Beteiligten schädlichen Opernskandal.

Man weiss um die schwierigen raumakustischen Bedingungen des Stadttheaters Bern, insbesondere dann, wenn der grosse Orchestergraben geöffnet ist. Man weiss ebenso um die ausserordentliche Lärmbelastung, der die Musikerinnen und Musiker im Orchestergraben ausgesetzt sind. Bergs Oper verlangt eine grosse Besetzung; trotzdem ist seine Musik meist kammermusikalisch-durchsichtig geschrieben. Sie kennt aber ebenso Klangballungen und expressive Schärfen. Doch alle diese Argumente erklären das Verhalten weder der einen noch der anderen Seite – schon gar nicht am Abend der Premiere.

Marc Adam hat im Anschluss an die Aufführung in einer mündlichen Presseerklärung festgehalten, dass in der Generalprobe technische Verbesserungen versucht worden seien. Warum sind diese Probleme erst so spät erkannt worden? Fragen zur Klangbalance sind in den ersten Orchesterbühnenproben zu klären, zumal, wenn sich der musikalische Leiter als Gast erstmals mit, wie in diesem konkreten Falle, heiklen raumakustischen Gegebenheiten konfrontiert sieht. Die zentrale Frage angesichts der überaus peinlichen Premierenereignisse lautet indessen, wie konnten zwischen der musikalischen Leitung und dem Orchester überhaupt derart unüberwindliche Meinungsunterschiede entstehen, sodass diese erstmals in der Generalprobe zu Unterbrüchen, am Abend der Premiere aber schliesslich zum Eklat führten?

Eindringliche Personenregie

Dass das Publikum trotz allen Störungen letztlich einen bewegenden Opernabend erleben durfte, brachte dieses schliesslich in einem warmen bis stürmischen Beifall zum Ausdruck – der sich übrigens an alle Interpreten richtete. Erst als das Regieteam die Bühne betrat, wurden einzelne Pfiffe laut. Eine Reaktion, die aus der Perspektive der Interpretation unverständlich ist, aber wohl aus dem Kontext der Ereignisse zu erklären ist, letztlich aber die Falschen traf. Marc Adam, Jean Bauer (Bühne), Pierre Albert (Kostüme) und Roman Brogli-Sacher hatten dieselbe Interpretation bereits 2006 in Lübeck erfolgreich präsentiert.

Bauer hat als einziges bauliches Element eine dominante Eisenmauer geschaffen, in der sich Türen und Fenster öffnen, Innenräume voller quälender, vereinzelt auch wüster Bilder. Daneben die alltägliche Wirklichkeit, in der sich die gehetzte Kreatur Wozzeck zwischen seiner Geliebten Marie, dem sich wissenschaftlich mit Versuchen an Wozzeck profilierendem Doktor und dem Hauptmann bewegt. Adam hat für die Geschichte der Ausweglosigkeit aus Schicksalsergebenheit und Ausgeliefertsein eine eindringliche, gut lesbare Personenregie entwickelt.

Expressiver Klangrausch

Brogli-Sacher sucht mit dem Orchester die Extreme. Das Leise, Gehauchte und Flirrende steht neben dem Aufschrei, dem Massiven und Erdrückenden. Dabei scheint er der symbolkräftigen Musiksprache wenig zu trauen, deckt manche Verästelung zu. Dies hat zur Folge, dass beinahe alle Solisten phasenweise forcieren, was insbesondere bei der herausragenden Mardi Byers (Marie), vereinzelt aber auch bei Matthias Grätzel zu stimmlichen Kraftanstrengungen führt. Insgesamt aber besticht die Besetzung durch grossartige sängerische Leistungen, dies gilt für die mittleren (John Uhlenhopp als Tambourmajor, Fabrice Dalis als Andres, Monica Minarelli als Margret und, mit Tiefenschwächen, Frode Olsen als Doktor) wie auch für die kleineren Partien (Richard Ackermann, Rolf Scheider, Andries Cloete) und den Chor. Manche Differenzierung im Graben wäre also wünschenswert, weniger der Lautstärke wegen als eben der vielbeschworenen Klangbalance.

Trotz diesen Einschränkungen: Nicht allein das Werk ist ein Muss für jeden wachen und neugierigen Geist, auch die Berner Neuinszenierung kann nur empfohlen werden. Bleibt zu hoffen, dass sich Dirigent und Orchester für die kommenden acht Vorstellungen auf eine Intensität einigen können, wie sie der Raumklang zulässt und wie sie der Text der Partitur fordert – und auch darauf, in wessen Händen die künstlerische Leitung liegt.