Machtkampf im Graben

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (26.03.2008)

Wozzeck, 22.03.2008, Bern

Eine etwas andere «Wozzeck»-Premiere am Berner Stadttheater.

Eine Viertelstunde nach Beginn verliess der Dirigent den Orchestergraben aus Verärgerung über das Orchester. Es folgte eine Aussprache hinter den Kulissen, ein Neustart der Oper und eine letzten Endes geglückte Premiere.

Selbst langjährige Opernbesucher haben solches noch nie erlebt: Nach der ersten Szene von Alban Bergs Oper «Wozzeck», die orchestral seltsam matt, inhomogen und unengagiert klang, während die Sänger voll aussangen, verliess der Dirigent Roman Brogli-Sacher den Orchestergraben. Es war Samstag, die Premiere. Der Intendant Marc Adam trat auf die Bühne und erklärte die Flucht des Dirigenten mit «Differenzen in der musikalischen Interpretation». Nach einer längeren Pause wurde das Publikum wieder in den Saal gebeten. «Wir haben einen Weg gefunden», sagte Adam, das Orchester entschuldige sich.

AKUSTIK. Was war passiert? «Es gab Differenzen zwischen Theaterleitung und Orchester die Akustik betreffend», sagte der Dirigent Roman Brogli-Sacher später im Gespräch mit der baz. «Das Orchester erklärte einige Stunden vor der Aufführung, es werde nur pianissimo spielen. Als sie das dann wirklich taten, musste ich gehen.»

Der Berner Intendant Marc Adam ergänzt im Gespräch während der Premierenfeier, Brogli-Sacher habe aufgrund der Drohung des Orchesters erst gar nicht dirigieren wollen, habe sich dann aber von ihm, dem Intendanten, überreden lassen. Die Musiker hätten nicht erwartet, dass der Dirigent so konsequent reagiere.

Das Problem liege auch darin, dass das Theater nicht die Personalhoheit über das Orchester habe. Der Intendant vermutet, die Musiker seien auch darum so empfindlich gewesen, weil sie am Karsamstag spielen mussten, wo die meisten in ihre Häuser im Berner Oberland gehen wollten.

politik. Man fing von vorne an, und siehe da: Das Orchester klang wie ausgewechselt. Nicht perfekt, aber im Klang beherzt, in den Bläsern scharf und in manchem Solo engagiert. Roman Brogli-Sacher, der in Basel geborene Operndirektor von Lübeck, hatte den Machtkampf gewonnen.

Noch nie hat in der Schweiz ein Orchester so deutlich seine Macht demonstriert, und noch nie ist die Gefahr von Gehörschäden bei Orchestermusikern, vor allem im Operngraben, so deutlich aufs Tapet gebracht worden. Dieser Ostersamstag in Bern wird Folgen haben.

REALISTIK. Letzten Endes wurde es dann doch ein guter Abend: Die Regie des neuen Intendanten Marc Adam gekonnt in der Personenführung, die Zeichnung der Figuren innerhalb eines traditionellen Konzepts klar und souverän, das Bühnenbild von Jean Bauer ästhetisch und funktional, die Sängerleistungen sogar exzellent. Inszenatorisch gab es etwas zu viel Rampengesang, aber immerhin war es so um die Textverständlichkeit gut bestellt.

Vincent Le Texier ist ein Wozzeck, der nicht nur das Arme-Leut-Klischee bedient, sondern mit kräftigem und farbenreichem Bariton kundtut, dass er ein ganzer Mann ist, ausgebeutet und zum Mörder gemacht von den zynisch-bigotten und menschenfeindlichen Machthabern der Gesellschaft. Mardi Byers ist seine Marie, mit eher verhaltenem, nie gellendem Sopran und anrührender Schauspielkunst. Glänzend besetzt sind Hauptmann (Matthias Grätzel), Doktor (Frode Olsen), Tambourmajor (John Uhlenhopp) und Wozzecks Freund und Leidensgefährte Andres (Fabrice Dalis). Bunt gewandete Majoretten und der markig singende Theaterchor mitsamt Kinderchor geben dem Stück ein volkstümliches Gepräge.