Wie man in den Wald ruft

Eva Bachmann, St. Galler Tagblatt (14.04.2008)

Der Freischütz, 12.04.2008, St. Gallen

Echos aus unterschiedlichen Ecken prägen den «Freischütz» am Theater St. Gallen.

Regisseur Anthony Pilavachi inszeniert Carl Maria von Webers Oper «Der Freischütz» einmal realistisch, ein andermal ironisch gebrochen, dann intellektuell befrachtet. Zu viel auf einmal.

In der «Freischütz»-Ouverture ist schon alles da: die Hörner der Jägerchöre und das Gottvertrauen der Agathe, aber auch das flirrend Zweideutige, das eruptiv ins Dämonische ausbrechen kann. Fast zehn Minuten darf das Orchester konkurrenzlos alles geben. Nachvollziehbar, dass sich Jií Kout zu seinem Abschied von St. Gallen dieses Werk gewünscht hat – und das Sinfonieorchester packt die Chance.

Kout geht die Ouverture sehr elastisch an, staut da etwas auf einen Höhepunkt hin, verbreitert dort eine melodische Phrase und zieht dann auch kaum merklich wieder an. Und trotzdem wirkt das alles nicht überladen, sondern macht die Themen hörbar, die hier exponiert werden – man wird sich an sie erinnern. Sehr differenziert gestaltet ist ebenfalls die Klangqualität der Streicher, die neben der Forte-Brillanz und dem Piano-Schmelz auch das Dunkle und Undeutliche in vielen Schattierungen auszuspielen wissen. Am Ende der Ouverture ist das Dämonische denn auch schon da: Samiel tritt vor den Vorhang, lässt ihn öffnen. Sein Spiel kann beginnen. «Wenn man mich denkt, dann komme ich. Man wird mich nicht mehr los.»

Samiel macht das Spiel

Die Aufwertung Samiels zum Spielmacher und Kommentator mit zusätzlichen Sprechtexten von Steffen Kopetzky ist eine Idee, die zum Denken bringt. Nicht nur, weil hier universell gültige Sätze gesagt werden: «Ihr Menschen seid die Rotte, die sich selber hetzt. Ihr wollt aus eurer Mitte Menschen fallen sehn. (…) Ihr denkt zu töten wäre schwer. Wo kommen all die Toten her?» Die Texte machen die Figur noch rätselhafter – er ist kein Puck und kein Mephisto und kein antiker Chor und hat doch Elemente von allen. Und ausgerechnet dieses Wesen aus einer anderen Welt, das in immer neuer Gestalt auftritt, wird zum Führer des Publikums.

Christian Hettkamp ist grossartig in dieser Rolle, seine ungelenken Bewegungsmuster verleihen Samiel einen überirdischen (oder eben unterirdisch-höllischen) Charakter, seine Sprechstimme ist kalt und gnadenlos. Wo er mitten in der Szene spricht, wechselt das Licht und alles andere friert ein. Oft geht Samiel auch nur vorbei oder beobachtet die Szene. Im ersten Aufzug zum Beispiel aus einer Luke, die im Wandspruch «Wer Gott vertraut, baut gut» just den letzten (noch nicht weggeschossenen) Rest von Gott eliminiert.

Solche Spielchen hat Anthony Pilavachi einige auf Lager, und manchmal sind einem diese Fingerzeige fast zu viel: In der ersten Szene werden Max, der wieder nicht getroffen hat, buchstäblich die Hosen heruntergelassen, und er bekommt ein Schild «Schlappschwanz» umgehängt. Plakativ sind auch die Angst-Bilder der Wolfsschlucht: Mutters Sarg, der aus dem Boden fährt, oder die schwangere Agathe, gekreuzigt auf einer Zielscheibe. Andere Metaphern sind viel stiller und desto schöner, wie etwa jene schwarzen Adlerfedern, die unter Agathes Decke zum Vorschein kommen.

Diesem realistischen Zugang setzt der Regisseur im dritten Akt immer mehr ironische Lesarten entgegen: Das «Jungfernkranz»-Lied verkommt mit den Anzüglichkeiten der Cheerleaderinnen alias Brautjungfern zur Parodie. Vor dem Probeschuss sollen «Miss Bier», «Miss Wurst» und ihre Kolleginnen für Stimmung sorgen. Und der Aufmarsch der Jäger gerät mit dem Kleinen vorne rechts zum Slapstick. Zumindest letzteres ist köstlich, doch die Lustigkeit trifft einen unvorbereitet. Von ironischer Zuspitzung war in den ersten beiden Akten keine Rede. Geprägt waren diese von einer intellektuellen Lesart, die sich allerdings schlecht mit der realistischen Bildlichkeit vertrug.

Es scheint, Pilavachi habe in Webers deutschen Wald hineingerufen, es habe vielstimmig zurückgetönt – und die Echos seien kaum gefiltert Bühnenwirklichkeit geworden. Die Inszenierung wirkt als ganze disharmonisch.

Musik mit Nachhall

Auch die Sänger sind in diese unentschiedene Drei-Gestaltung einzuordnen. Auf der ironischen Seite etwa Neal Banerjee, der einen unglaublichen Aufwand treibt und deswegen eher als Hofnarr denn als reicher Bauer durchgeht. Realistisch dargestellt sind die beiden Frauen: Die ernste Agathe (Astrid Weber) und das quirlige Ännchen (Evelyn Pollock, einmal mehr überraschend). Sie machen beide ihre Sache sehr gut, aber in der Ausgestaltung ihrer Rollen erhalten sie wenig intellektuelle Tiefe. Diese bleibt Max (Thomas Mohr) und Caspar (Ralf Lukas) vorbehalten.

Lukas hat eine gewaltige Stimme, die er aber auch sehr gefährlich zurücknehmen kann. Mohr gibt Max von Anfang an als ein Zauderer, manchmal treuherzig vertrauend, dann verzweifelt, dann zu allem entschlossen. Trotz seines Körperumfangs bewegt er sich auf der Bühne agil und singt dazu noch grossartig weitgespannte Phrasen.

Die Musik ist es denn auch, die noch lange nach der Premiere im Kopf nachhallt, diese Melodien, die Weber immer wieder aufnimmt. Von den Bildern aber bleibt wenig, Samiels Klauen und Fratzen zumal, die Fototapete mit dem Wald sollte man hingegen schnellstmöglich vergessen.