Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (15.04.2008)
Webers «Freischütz» in St. Gallen
Ende dieser Saison verlässt Jiri Kout, der Chefdirigent des Sinfonieorchesters und musikalische Leiter des Theaters, St. Gallen. Seit 1996 hat der international renommierte Tscheche das Musikleben der Stadt geprägt, vor allem natürlich mit seinen Konzerten in der Tonhalle. Doch auch im Theater stand er regelmässig am Pult. Wenn er sich nun zu seinem Abschied Carl Maria von Webers «Freischütz» gewünscht hat, so entspricht das nicht nur seinem ausgeprägt musikantischen Temperament, es gibt auch dem Orchester Gelegenheit, seine Qualitäten ins Licht zu rücken: seinen satten, warmen Klang, seine verlässlichen Bläser, sein bemerkenswertes Reaktionsvermögen. Aus der Summe dieser Eigenschaften resultiert eine spannungsvolle, fein ausgearbeitete «Freischütz»-Aufführung, die zudem mit einer eindrücklichen Besetzung aufwarten kann.
Der höhensichere Tenor von Thomas Moser ist für die Partie des Max beziehungsweise das St. Galler Theater sogar fast zu voluminös. Optimal zur Geltung kommt dagegen der hoch musikalisch geführte Sopran von Astrid Weber (Agathe), der sich in der Mittellage besonders schön entfaltet. Caspar und der Eremit als Verkörperungen antagonistischer Kräfte erhalten durch Ralf Lukas und Tijl Faveyts die nötige stimmliche Resonanz, und Evelyn Pollock bemüht sich als Ännchen redlich, Munterkeit zu verbreiten.
Szenisch gewinnt die St. Galler Einstudierung allerdings kein klares Profil. Da gibt es zwar einen (gemalten) deutschen Wald mit weissen Hirschen und dazu passende Girlanden (Bühne Bettina Neuhaus, Kostüme Cordula Stummeyer), doch das Jägerfest mit Miss-Wahl wirkt mehr grell denn romantisch, und schrilles Lachen begleitet den als Schlappschwanz etikettierten Versager Max auf Schritt und Tritt. In der Wolfsschlucht, wo man sich grimmigen Höllenhunden gegenübersieht, geht es beim Kugelgiessen so textgetreu schauerlich zu, dass die Ironisierung plump wirkt. Als dramaturgische Klammer setzt der Regisseur Anthony Pilavachi den Dämon Samiel (Christian Hettkamp) ein, der sich in wechselnden Gestalten immer wieder ins Geschehen mischt und einen von Pilavachi verfassten schwülstigen Text deklamiert.
Das Probejahr, das ihnen am Schluss verordnet wird, warten Max und Agathe nicht ab, Hand in Hand ziehen sie von dannen, in freier Entscheidung. Bald wird ihnen nicht nur der Dirigent Jiri Kout, sondern auch die St. Galler Operndirektorin Franziska Severin folgen, die auf Beginn der nächsten Saison nach Leipzig wechselt. Ihre letzte reguläre St. Galler Premiere - es folgt noch Verdis «Giovanna d'Arco» im Rahmen der sommerlichen Festspiele im Klosterhof - war in mancher Hinsicht repräsentativ für die Ausrichtung, die sie dem Haus gegeben hat: ein Werk des kontinuierlich gepflegten Kernrepertoires in qualitätvoller musikalischer Wiedergabe und Besetzung, szenisch auf mittlerem Kurs zwischen Konvention und Erneuerung. Man darf gespannt sein, wie sich Franziska Severin und ihr eben ernannter, für radikale Lesarten bekannter Chefregisseur Peter Konwitschny in Leipzig arrangieren werden.