Turbulenzen in der Zahnarztpraxis

Hanspeter Renggli, Der Bund (28.04.2008)

Il Barbiere di Siviglia, 26.04.2008, Bern

Ein brillantes Ensemble und eine köstlich-rasante Inszenierung ordnen Gioacchino Rossinis Meisterwerk von 1816 unter den Musikkomödien als veritable Narrenpritsche an.

Die Flut an kleinen Geschichten und vieldeutigen Konstellationen unter den Personen ist zum eigentlichen Markenzeichen von Mariame Cléments Regiearbeit geworden. Eine überschäumende Ideenflut kennzeichnete die Berner Inszenierung von Rossinis «Viaggio a Reims» 2005, nun hat die franco-iranische Regisseurin mit Gioacchino Rossinis Erfolgswerk aus dem Jahre 1816 nachgedoppelt.

Die oft unterschätzte leichte Muse tritt in Cléments Handschrift mit Geist und abgründigem Humor, eben mit hoher Kunst auf. Clément arbeitet in der Regel mit der Ausstatterin Julia Hansen zusammen. Die gegenseitige Befruchtung in der Arbeit und das Zusammenspiel zwischen unübersehbaren Einzelheiten in den Kostümen und in entsprechenden Gesten haben Clément und Hansen in bestechender Weise kultiviert.

Bühnenwirbel

Eine Überfülle an Einfällen, kleinen Geschichten und feinen Assoziationen kennzeichnen denn auch die neue «Barbiere»-Inszenierung, eine Koproduktion mit der Opéra de Oviedo. Was bereits in Caron de Beaumarchais Komödie angelegt ist, die charakteristischen Züge des Stücks, die Freude an der Intrige des quirligen «Dieners» Figaro, der mit den «Herren» wie mit seinesgleichen verkehrt, diese Eigenschaften hat Rossini in eine bald lyrisch-entzückende Musik, meist aber in einen mechanisch-rhythmischen Figurenverlauf übersetzt. Marianne Clément inszeniert immer aus ebendieser Musik heraus und bewegt die Menschen – oder vielmehr ihre Spielfiguren – aus den musikalischen Akzenten. Jede Geste, jede der ständig neuen Personenkonstellationen bis in die Details sind sorgsam, aber virtuos gearbeitet, ohne sich in Wiederholungen zu verlieren.

Auch im «Barbiere» spielt die Regisseurin mit einer Fülle an Assoziationen, sei es, dass Alexey Kudrya als Almaviva in seiner Begeisterung ob Rosinas Gegenliebe in eine «Singin’ in the Rain»-Tanzshow à la Fred Astaire verfällt, sei es, dass er sich als Silvester-Stallone-Rambo zu Bartolos Zahnarztpraxis Zugang verschafft oder in Elvis-Presley-Pose den angeblich erkrankten Basilio vertritt. Bartolos Haus bewegt sich ständig im Kreis, wie Figaros Finten, Almavivas Werben und Bartolos verzweifelte Versuche, sämtliche Räume vor Fremden zu sichern. Das bieder-bürgerliche Gebäude, das zum Tollhaus wird, gibt Einblicke in mancherlei Innenräume, vor allem aber in Bartolos Zahnarztpraxis, ein ebenso vielseitiges wie raffiniertes Universum. Und hin und wieder stehen Zimmer ob all der intrikaten Turbulenzen kopfüber.

Koloratur der Bewegungen

Hinterhältige, Naive und Intriganten beleben Hansens Bühne und Cléments Spiel, nicht Böse und Gute, wie dies eine verstaubt-moralisierende Rezeption 150 Jahre lang glauben machen wollte.

Dabei gewinnt vor allem Doktor Bartolo, der natürlich ein Tyrann ist und das Leben für sein Mündel zum Kerkerdasein macht, der aber in Lionel Peintre einen spielerisch fantastischen Mimen findet. Seine Koloraturen zielen zu Recht nicht auf Schönklang, sondern spiegeln sein gehetztes Gehabe. Robin Adams als Figaro kann die ihm beinahe auf den Leib geschnittene rockig-coole Art so recht nach Lust und Laune ausspielen. Claude Eichenberger findet sich als Lolita-Kindfrau Rosina im erotisch-naiv-doppelbödigen Spiel bestens zurecht, ebenso Carlos Esquivel als Basilio, der im Karussell der Konstellationen meist nicht recht weiss, wie ihm geschieht. Wie in Rossinis Musik liegen Cléments szenische Reize im Detail, wenn zum Beispiel der Kaktus der Praxishilfe Berta (Alexandra Shenker) über Nacht zu blühen anfängt. Mag die eine Stimme in hohen Lagen etwas eng erscheinen, die andere die Koloraturen etwas grosszügig umsetzen, es sind die bezaubernd-rasenden Finali, die das Ensemble unter der musikalischen Leitung von Srboljub Dinic mit grosser Präzision beherrscht.

Der Funken ist übergesprungen

Klingt anfänglich sowohl im Orchestergraben als auch auf der Bühne der eine oder andere Ansatz noch bedächtig, zeugen einzelne Stimmen von Nervosität und läuft manch feine instrumentale Einzelleistung Gefahr, ob all der szenischen Kuriosa unterzugehen, so gewinnt Rossinis musikalischer Wirbel im Lauf des Abends immer mehr an Sogkraft. Und unüberhörbar blieb der nicht nur versöhnliche, sondern besonders warme Beifall für das Berner Symphonie-Orchester!

Die meist reizvollen Produktionen der ersten Saison in Marc Adams Direktionsära, die im Grunde neugierig machen müssten, wollten sich bisher nicht recht durchsetzen. Mit dem «Barbiere» scheint nun der Funken zum Publikum übergesprungen. Die Spiellust, mit der nicht allein die Protagonisten, sondern auch die sorgsam ins Räderwerk eingefügten kleinen Partien, die Statisten sowie der Chor (Leitung: Lech-Rudolf Gorywoda) agierten, ist vom hörbar amüsiert mitgehenden Publikum goutiert worden.