Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (29.04.2008)
Bei der Premiere von Mussorgskis «Boris Godunow» am Sonntag im Opernhaus Zürich haben nur einige der Sänger restlos überzeugt. Klaus Michael Grübers Regie hingegen war eine einzige Enttäuschung.
Das war nun wahrlich keine Regie-Grosstat. Wie kann man nur eine so dramatische Oper wie Modest Petrowitsch Mussorgskis «Boris Godunow» so kläglich verschenken, wie es Klaus Michael Grüber am Sonntag bei der Premiere im Zürcher Opernhaus getan hat? Die Produktion wurde 2006 für Brüssel konzipiert und schon in Madrid und Strassburg gezeigt. Man hätte in Zürich also wissen können, was auf das Haus zukommt, und bei den Proben Gegensteuer geben. Neu waren nur die beiden Bilder des Polen-Akts, die Grübers Assistentin Ellen Hammer und der Bühnenbildner Eduardo Arroyo für Zürich neu einrichteten und dabei immerhin ein bisschen Fantasie bewiesen.
Bilder wie aus dem Krippenspiel
In den übernommenen Teilen von Grübers Inszenierung war gar nichts lustig oder fantasievoll. In Sack und Plastik lungert das Volk herum, aber statisch, unbeweglich, ungeführt. Und Grüber schafft kein Gefühl von prunkvollem Adel (Ausnahme Boris: ganz in Gold!), sondern verkleidet die Bojaren (die mächtigen russischen Fürsten) als obskuren Mönchsorden mit Rauschebärten. Auch Pimen in seiner Einsiedlerklause darf Bart und Glatze tragen, dafür hat er einen lieben Löwen an seiner Seite. Die Wirtshaus-Szene ist schlicht peinlich, und Boris' heiles Familien-Gegenbild zum zunehmenden Wahnsinn des Zaren ist an Einfallslosigkeit auch kaum zu überbieten. Das sind Bilder wie aus dem Krippenspiel der Sonntagsschule. Wieso nicht gleich konzertant? Auf kryptische Zeppeline und Dornenkronen können wir dann auch gleich verzichten.
Musikalisch immerhin gab es einige Glanzlichter, das grösste und strahlendste von Matti Salminen als Boris. Unglaublich, wie der 62-jährige finnische Opernsänger noch mächtig aufdrehen kann, ohne seine Stimme zu ermüden oder auch nur einen Hauch von Abnutzungserscheinungen offenbaren zu müssen. Denn am Ende, in den leisen Szenen mit dem Gottesnarren (den Boguslaw Bidzinski zwar wunderschön schlicht, aber mit Spannungsabfällen sang) und vor seinem Tod in der Zwiesprache mit seinem Sohn, fand Salminen trotz der nun wirklich heftigen Fortissimo-Orgien zuvor ohne Mühe zu innigen, warmen und leisen Tönen.
Auch andere Sänger überzeugten: Pavel Daniluk als Pimen, die andere grosse Bass-Rolle des Stücks, blieb zwar manchmal etwas gar schön und edel, aber sängerisch blieben sonst keine Einwände. Auch Reinaldo Macias als Grigorij liess kaum Wünsche offen. Luciana d'Intino mit ihren Farb- und Registerwechseln, mit ihrem impulsiven Temperament als Marina und Wladimir Stoyanov mit seinem kräftigen, runden Bariton als Jesuitenpater Rangoni prägten den Polen-Akt. Ohne sie hätte man ihn getrost streichen können, denn der russische Dirigent Wladimir Fedoseyev, der sich vehement für diese nachträglich von Mussorgski eingefügten Szenen einsetzte, vermochte nicht wirklich zu zeigen, warum sie musikalisch wertvoll wären. Im Gegenteil, gerade die Polonaise wirkte platt, und die behauptete Ironie wollte sich nicht einstellen, wohl auch, weil das Orchester noch stark damit beschäftigt war, sich zu orientieren und von Anfang bis Ende immer wieder gröbere Wackler, gerade auch bei den Chören, auftraten.
Ein leises Ende
Fedoseyev liess die originale Instrumentierung von Mussorgski stehen. Zu Recht, das ist heute eigentlich überall Standard. Mehr zu diskutieren gab, dass er den Schluss gestrichen hat und die Oper statt mit den Verwüstungen der Volksmassen mit dem Tod des Zaren leise enden liess. Zweifellos, ein grosser Moment und dank Salminen auch ein würdiger Schluss. Aber vielleicht nicht der Weisheit letzter.