Der Zar und der Gottesnarr

Herbert Büttiker, Der Landbote (29.04.2008)

Boris Godunow, 27.04.2008, Zürich

Das politische Fresco ist von der letzten Inszenierung noch in Erinnerung, das grosse innere Drama um die «Macht des Gewissens» begegnet einem jetzt. Geblieben ist der grossartige Hauptdarsteller des Boris Godunov, Matti Salminen.

Ein szenischer Wurf ist der neue Zürcher «Boris Godunov» wohl nicht, da bleiben zu viele Fragen und heterogene Eindrücke, aber er ist ein szenisch-musikalisches Ereignis, voller grosser Momente, in denen Darsteller ihre Figur auf den Punkt bringen, in denen die musikalische Erzählung eruptive dramatische Kraft entfaltet. Das geschieht Bild für Bild in einem stilistischen Mix, der sich nur von weither zum epischen Album fügt. Dass die für Brüssel konzipierte Inszenierung für Zürich um den Polen-Akt nachträglich ergänzt worden ist, weil hier die Originalfassung von 1872 gespielt wird, verstärkt wohl diesen Eindruck. Umso markanter ist jetzt die Diskrepanz zur letzten Inszenierung im Opernhaus, die auf der konziseren Urfassung von 1869 basierte.

Der Polen-Akt verdeutlicht, dass es um zwei gegenläufige Geschichten geht, um den Untergang des Machtmenschen Boris, und um Aufstieg des jungen Mönchs Grigorij. Dieser behauptet, eben jener Zarensohn Dimitrij zu sein, den Boris ermorden liess, um an die Macht zu kommen. In Polen findet er Unterstützung und in Marina eine machtbesessene Geliebte, um den Moskauer Thron zu erobern.

In der szenischen Entfaltung des doppelten Machkampfes kommen zahlreiche weitere Figuren ins Spiel, folkloristische Miniaturen, politische und kirchliche Repräsentanten und Intriganten und nicht zuletzt das manipulierte und geschundene Volk: eine der grossen Chorpartien der Opernliteratur, für die das Opernhaus aber bestens gerüstet ist. Stark besetzt sind auch Partien wie der polnische Jesuit Rangoni mit Vladimir Stoyanov und Fürst Schujskij mit Rudolf Schasching, oder dann das Liebes- respektive Machtpaar Marina und Dimitrij, wobei Reinaldo Macias sehr schön phrasiert, aber im Wechsel von der Klause auf die grosse Politbühne auch stimmlich einen heldischeren Bogen schlagen dürfte, zumal die Partnerin Luciana d’Intino mit voluminösem Mezzosopran weit weniger empfindsam agiert.

Surrealismus und Folklore

Die Inszenierung (Klaus Michael Grüber und Ellen Hammer) gibt allen Figuren ein spezifisches, stilistisch weit divergierendes Terrain. Das Volk drängt sich mit heutigem Plunder und Plastiktaschen (Kostüme: Rudi Sabounghi) in aktueller Betonarchitektur. Der Polen-Akt erhält ein surrealistisches Ambiente – der spanische Bühnenbildner und Maler Edouardo Arroyo hat Dalí und Miró im Kopf. Die Theaterwelt der angeklebten Bärte feiert fröhlich Urständ in der Schenkenszene, in der Liuba Chuchrova (Wirtin) und vor allem Andreas Hörl als versoffener Bettelmönch Warlaam deftig brillieren. Russland-Folklore, die in der Musik ja auch begründet ist, gibt es in den Szenen am Hof. Rebeca Olvera ist hier die anrührend trauernde junge Xenia, Kismara Pessatti die Amme, die sie mit ihrem krausen Mücken- und Wanzenlied aufzuheitern versucht, und Martina Welschenbach berührt mit heller Stimme als der kleine Fjodor, der ahnungslos in die tragische Geschichte seines Vaters Boris hineinwächst.

Die geradezu väterliche Liebe, die Mussorgski seinen volkstümlichen Gestalten und der Kinderstube musikalisch entgegenbringt, hat er auch seiner Hauptfigur zugedacht. In der ganzen Vielschichtigkeit zwischen stentorischem Gewaltausbruch und grübelndem Arioso findet Matti Salminen als Boris Godunov auch den Klang zärtlicher Behutsamkeit im Umgang mit seinem Sohn. Wie sich der Riese von Stimme und Gestalt zu ihm herabneigt, gehört zum Zauber seiner ungemein luziden Charakterisierungskunst. Sie lebt – darstellerisch durch Bronzemaske und statuenhafte Kostümierung ein wenig verstellt – in erster Linie von der klanglichen und musikalischen Nuancierung einer Stimme, die über alle Grobheit und Feinheit kontrolliert verfügt. Die Palette scheint seit dem Boris von 1999 noch einmal breiter geworden zu sein. Salminen beherrscht die Szene von den gewaltigen Ausbrüchen des Wahnsinnigen bis zu den leisesten Momenten der erschütternden Todesszene.

Hüter der Wahrheit

Mit zum Bewegendsten im Zentrum des Dramas gehören zwei Randfiguren des Geschehens, der Mönch und Chronist Pimen, dem Pavel Daniluk mit klangvollem Bass in den grossen Monologen Autorität verschafft, und der Gottesnarr, dessen Unschuld und Verletzlichkeit Boguslav Bidzinskis berührend gestaltet. Beide sind sie als Weise die Hüter der Wahrheit mit mächtiger Ausstrahlung. Aber während sich Pimen trotz seiner kontemplativen Distanz ins Geschehen ironisch verstrickt – für Grigorij wird seine Chronik zur Handlungsanweisung, und für Boris bedeutet die Erzählung vom blinden Hirten, der am Grab Dimitrijs sehend wird, todbringende Erschütterung – bleibt der Gottesnarr in seiner Reinheit unberührbar.

Die Szene vor der Basilius-Kathedrale, in der sich Boris vor dem Ohnmächtigen verneigt, der ihm die Wahrheit ins Gesicht sagt, ist in dieser Aufführung als Scheitelpunkt des Dramas zu erleben. Von da aus gesehen ist dann auch die Entscheidung des Dirigenten Vladimir Fedoseyev nachzuvollziehen, das Stück mit der Todesszene des Boris zu schliessen und auf die Chorszene mit dem Gottesnarr in Kromy zu verzichten. Mag sich das offenere Ende des «Volksdramas» geradezu aufdrängen: die dramatische Linie, die Fedoseyev vorgibt, ist nicht weniger bezwingend.

Überhaupt erweist sich Fedoseyev an diesem Abend – auch wenn er seine Aufführung mit eigenen Geräuschen empfindlich stört – als der grosse Sachwalter Mussorgskis, und das Orchester folgt ihm mit opulentem, aber straffem und agilem Klang. Immer wieder lässt die psychologische Eindringlichkeit in der Fülle der Farben, zumal der Streicher, dann aber auch der Holzbläser aufhorchen, überrascht der musikdramatische Furor dieses Orchesters in den Monolog- und Dialogszenen. Das rückt Mussorgski modern und dicht klingende Musik des grossen Kammerspiels reich schattiert in den Vordergrund und zentriert den Abend, auch wenn das grosse Al fresco keineswegs zu kurz kommt, ja mit Surround-Wirkung noch aufgepeppt wird, überzeugend in der inneren Dramatik des «Boris».