Räuber Hotzenplotz in Russland

Tobias Gerosa, Der Bund (29.04.2008)

Boris Godunow, 27.04.2008, Zürich

Modest Mussorgskis «Boris Godunow» am Opernhaus Zürich wurde trotz Matti Salminen total in den Sand gesetzt.

Klaus Michael Grüber war ein wichtiger, ein prägender Schauspielregisseur. Am Opernhaus Zürich präsentiert er jetzt einen disparaten, zwischen Laienmärchenbühne und Abstraktion schwankenden «Boris Godunow». Die musikalische Seite hilft trotz ausgeglichener Besetzung nur teilweise über den Ärger hinweg.

Ach, hätte Modest Mussorgskis «Boris Godunow» doch keine Nebenfiguren und nur Szenen mit der Titelfigur. Ach, müsste man sich in diesem Werk doch nicht mit Geschichte herumschlagen. Dann wäre die Zürcher Neuproduktion mit Matti Salminen, die am Sonntag Premiere hatte, vielleicht sogar szenisch geniessbar herausgekommen. Offiziell zeichnet die deutsche Theaterlegende Klaus Michael Grüber für die Regie, die seit 2006 an mehreren Orten mit jeweils unterschiedlichen Dirigenten und Besetzungen zu sehen war. Allerdings sei Grüber krank und hätte die Proben seiner Assistentin überlassen, ist zu hören. Sie holte sich am Sonntagabend denn auch die Buhs des Premierenpublikums ab. Denn nichts passt da zusammen.

Klebebärte und Plastiksäcke

Im ersten Bild ist das russische Volk vor der monumentalen Betonwand unübersehbar Prekariat von heute (Kostüme: Rudy Sabounghi), in Schach gehalten wird es allerdings von einem Aufseher im Aufzug des 16. Jahrhunderts des historischen Godunow. Sonderlich präzise wirkte der Opernhauschor noch nicht, das Bühnenbild (Eduardo Arroyo) mit seinem Wechsel zwischen offenem Raum und frontaler Wand macht es ihm auch akustisch nicht leicht.

Nach der Pappmaschee-Klause (wozu mit Löwe?) des Mönchs Pimen – optisch ein antiker Eremit, stimmlich von Pavel Daniluk mit erfreulichem Wohllaut ausgestattet – erstaunen die Wallebärte der Mönche (schwarzgrau) und Soldaten (rot) nicht mehr. Dass sich Letztere bei der Verhaftung des falschen Zarewitschs anstellen wie Räuber Hotzenplotz, betrachtet man mit ungläubigem Kopfschütteln, und bei den Bojaren als vervielfältigte sieben Zwerge wartet man einfach noch auf den letzten Auftritt Boris’ und hat dabei gut Zeit, sich auf die nicht existierende Personenführung zu konzentrieren, die sich in unwiderstehlicher Anziehungskraft der Rampe offenbart (am stärksten bei Reinaldo Macias’ lyrischem Dimitri).

Boris im Goldpanzer

Was nützen da ein paar gelungene Ansätze, wie Boris’ Familienleben als Schachspiel oder Boris als von Kopf bis Fuss Goldgepanzerten, zu keiner Aktion mehr fähigen Herrscher zu zeigen? Die Tragik und die Modernität des Stückes bleiben so auf der Strecke, selbst Sängerdarsteller wie Rudolf Schasching als Intrigant Schujski bleiben blass. Besser wirkt, wer sich wie Luciana D’Intino als Marina und Vladimir Stoyanov als Jesuit Rangoni primär aufs Singen konzentriert.Doch da ist immerhin noch Matti Salminen als Boris. Es ist weniger die Macht seines Basses als die Intensität seiner psychologischen Rollendurchdringung und der leisen Töne, die fesseln. Was man an Differenzierung in der Inszenierung vermisst, in Salminens Titelpartie findet man sie konzentriert.

Version aus beiden Fassungen

Ebenfalls Positives zum Orchester, das unter Vladimir Fedoseyevs Leitung mit warmen Farben und Intensität spielte. Die oft sehr langsamen Tempi machten viele instrumentale Details hörbar, brachten die Handlung aber manchmal zusätzlich ins Stocken. Zwar spielt man natürlich die originale Orchestrierung Mussorgskis, die lange als dilettantisch abgetan worden ist, Fedoseyev sucht in ihr aber weniger die Härten und Modernität als eine romantische und nur zeitweise durchbrochene weich singende Sicht. Fedoseyev hat sich für eine Mischfassung des in zwei Fassungen vorliegenden Werkes entschieden. Während er den für in der späteren Version hinzugefügten Akt in Polen spielt, streicht er das letzte Bild, in dem die von Boris repräsentierte Ordnung zusammenbricht. Die Aufführung endet so mit dem eindrücklichen Tod von Boris mit dem stärksten Moment.

Trotzdem: Der Abend bleibt ein grosses Ärgernis. Theater muss misslingen dürfen, wenn sich eine Produktion aber an ihrer vierten Station so präsentiert, hätte man auch als Koproduzent reagieren können und müssen. Neben Sponsorgeldern sollten dringend auch solche Überlegungen einfliessen, wenn endlich über die überfällige Nachfolgeregelung Pereira entschieden wird.