Verena Naegele, Basler Zeitung (29.04.2008)
Mussorgskis Oper «Boris Godunow» am Opernhaus Zürich
Wenn Vladimir Fedoseyev am Pult des Opernhauses steht, dann ist kraftvoll farbige Musikinterpretation vom Feinsten angesagt, aber man ist vor befremdlichen Überraschungen nie sicher.
Jüngst war es die Wahl für Schostakowitschs kommunistisch geglättete «Katerina Ismailova», nun ist es die (fast) integrale Zweitfassung von Mussorgskys «Boris Godunow», die Kopfschütteln auslöst. Fedoseyev spielt zwar die raue Originalinstrumentation, aber auch den «Polen»-Akt, den Mussorgsky einst unter Druck nolens volens nachkomponiert hatte.
Wohl kaum je stand dieser eingeschobene 3. Akt, in dem alle Opernklischees von Leidenschaft, Intrige und «süffiger» Musik bedient werden, derart quer in der Landschaft. Zu «danken» ist dies auch Regisseur Klaus Michael Grüber, der mit piktographischen Vorwürfen nur so um sich wirft. Ein von der Decke heruntergefallener Lüster, der mit Totenköpfen gespickte Sessel von Marina und der hölzerne Schimmel, auf den sich der siegessichere Grigorij setzt, signalisieren überdeutlich: Diese Welt ist vorbei. Da hilft es auch nicht, dass Luciana d’Intino mit ihrer erotisch tiefgründigen Stimme und Reinaldo Macias feingliedriger Tenor ein wunderbares «Duett» abgeben.
Zahlt Grüber damit heim, was an der Fedoseyev-Fassung nicht passt? Tatsächlich reisst die «Extra-Zürcher-Version» die in Co-Produktion mit Brüssel konzipierte, schlüssige Inszenierung auseinander. Boris ist eigentlich kein skrupelloser Herrscher, sondern eher ein Kind des spezifisch russischen Denkens.
Fetzen-Look. Das Ausstattungsteam (Eduard Arroyo und Rudy Sabounghi) vermeidet jeglichen Zarenpomp, kleidet das Volk in verwaschene, zeitgenössischen Bildern nachempfundene Fetzen und bestückt es mit Plastiksäcken, in denen es sein Hab und Gut mitträgt. Damit erhält das klagende Lied des «Gottesnarren» (Boguslaw Bidzinski) eine zeitlose Wahrheit.
Statt Postkartenkitsch setzt das Grüber-Team subtile surreale Zeichen. Ein Ikarus-Jesus-Standbild, das in der Wahnsinns-Szene im 2. Akt zusammenknickt, eine Strohballen-Wand als Metapher der «Enterei» anstelle der «Schenke an der litauischen Grenze», oder ein stolzer junger Löwe im Tschudow-Kloster des Pimen. Im Mittelpunkt stehen die Befindlichkeiten von Volk und Herrscher. Doch was psychologisierend angelegt ist, wurde an diesem Abend nicht eingelöst, denn zu beliebig und langweilig war die Gestik des Ensembles.
Vater-Szenen. Da musste Matti Salminen sein ganzes Gewicht als Sänger-Darsteller in die Waagschale legen, um den Abend zu retten. Er spielte den Boris als seltsam anrührenden Menschen mit Wärme in den Vater-Szenen, mit unbändiger Wut gegen seine Gegner und mit verhauchender Verwirrung am Schluss.
Glänzend Paroli bot ihm Rudolf Schasching als fieser Schujskij, und mit seinem kernigen, etwas eindimensional gefärbten Bass stach Pavel Daniluk als Pimen aus dem riesigen Ensemble heraus. Die Chöre profilierten sich durch sängerische Kraft und darstellerische Tiefe – der Umgang mit Massen, eine Stärke von Grübers Regie.