Eine Oper, so bunt und unrealistisch wie ein Fotoroman

Susanne Kübler , Tages-Anzeiger (26.05.2008)

Clari, 23.05.2008, Zürich

Cecilia Bartoli ist hinreissend, die Regie witzig und sorgfältig. Für die versuchte Ehrenrettung von Jacques Fromental Halévys Oper «Clari» am Zürcher Opernhaus reicht nicht einmal das.

Mehr kann man nicht tun für dieses Stück. Mehr kann man auch nicht tun für die einstige Starsängerin Maria Malibran, für die Jacques Fromental Halévy 1828 die Titelrolle seiner Oper «Clari» masskomponiert hat. Das ganze letzte Jahr hat Cecilia Bartoli ihrer grossen Vorgängerin gewidmet; sie hat eine CD mit Arien aus ihrem Repertoire herausgegeben, ist mit einem Lastwagenmuseum mit allerlei Malibran-Devotionalien herumgereist und hat den 200. Geburtstag der Diva mit einem Aufführungsmarathon in Paris gefeiert (an dem auch das Zürcher Opernhaus mit Rossinis «Cenerentola» beteiligt war).

Landei trifft Geck

Es war Bartolis Idee, zu Ehren Malibrans auch noch die längst vergessene «Clari» auszugraben; der Vorschlag, das bisher vor allem im englisch- und französischsprachigen Raum aktive Regisseuren-Duo Moshe Leiser/Patrice Caurier zu engagieren, stammte ebenfalls von ihr (und er war gut). Nun legt sie sich in der Titelrolle mit der üblichen Verve ins Zeug. Sie lässt die Koloraturen sprudeln und die Pianissimi strahlen, und rührend naiv guckt sie aus dem türkis glitzernden Kleid, das ihr der geliebte Duca mit Unterstützung des Kostümbildners Agostino Cavalca verpasst hat.

Der Duca, das zeigt nicht nur dieses Kleid, hat einen zweifelhaften Geschmack, und John Osborn zelebriert ihn genüsslich. Im goldenen Morgenrock räkelt er sich auf lindengrünem Sofa vor Wänden, die der Bühnenbildner Christian Fenouillat lachsrosa gestrichen hat: ein Geck, ein dilettantischer Sammler grauenhafter zeitgenössischer Kunst, der mit hellem und zuweilen wunderbar schmierigem Tenor eine Liebe umgarnt, die er per Mausklick bestellt hatte.

Wie die beiden zueinander gefunden haben, zeigen Leiser/Caurier in einer Diashow - zur Einstimmung auf jene Fotoroman-Ästhetik, die die ganze Inszenierung prägt. Da sehen wir also Clari in Gummistiefeln zwischen den Kühen ihres Heimatkaffs; den Duca vor dem Computer beim Aussuchen einer geeigneten Heiratskandidatin; Clari im Flugzeug, unterwegs zum ersehnten Glück; und viele rote Rosen, die den Graben zwischen ärmlich und protzig zuschütten sollen.

Dann sind wir in der Gegenwart, und es dauert, bis es wieder Rosen gibt. Dem Duca pressiert es plötzlich nicht mehr mit Heiraten, er stellt Clari seinen staubwedelnden Dienern als «Cousine» vor. In einem zu ihren Ehren aufgeführten Theaterstück erkennt Clari dann nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern vor allem den grollenden Vater wieder. Es folgen: Ohnmacht, Skandal, Spitaleinlieferung, Selbstmordversuch der Clari, Heimkehr ins Dorf, Reue des Duca, allseitige Versöhnung, Happyend. Wie aus dem Duca plötzlich ein echt Liebender wird, wie das seltsame Paar funktionieren soll, das erklärt die Oper nicht, und der Fotoroman muss es sowieso nicht.

Präzise Schnappschüsse

Man kann die Geschichte vergessen - und sich über die ungemein liebevoll ausgearbeiteten Schnappschüsse freuen. Die Etepetete-Gesellschaft des Duca ist grandios ausstaffiert, der von Jürg Hämmerli vorbereitete Chor singt und agiert mit Gusto. Im Theater für Clari haben dank Eva Liebau und Oliver Widmer zwei Diener ihren grossen Auftritt: Sie beherrscht neben den Spitzentönen auch den Spitzentanz, er behält seine baritonale Würde selbst auf dem Stoffrössli. Die Spitalszene hat dann fast marthalersche Qualitäten. Und schliesslich geraten wir ins schäbige Elternhaus von Clari, zu Meer-Poster und Fernseher, zu Vater Carlos Chausson, der das Hausschwein streichelt, während er über die verlorene Ehre faselt, und Mutter Stefania Kaluza, die ihn schnapsgestärkt zur Vernunft bringen will.

Gute Ideen, gute Sänger, viel Herzblut: Es wäre alles da, was es für eine erfolgreiche Ausgrabung eines vergessenen Stücks braucht. Das Einzige, was fehlt, ist ein Stück, das diese Ausgrabung wert wäre. Das Problem der «Clari» liegt nicht in der holzschnittartigen Geschichte; die gibt es in anderen Opern auch. Es ist die Musik, die den Abend lahm legt. Schon in der Ouvertüre mixt Halévy alle möglichen Ingredienzien: Fanfaren und M-ta-ta-Musik, ein paar kantable Soli und Brüche, die eine Dramatik signalisieren, die zuvor nirgends aufgebaut wurde. Das auf historischen Instrumenten spielende Opernensemble La Scintilla unter Adam Fischer kommt nicht in Fahrt, weil nicht klar ist, wohin diese Fahrt gehen soll.

Halévy war 29, als er in dieser Oper die Italienerfahrungen verarbeitete, die er als Sieger des prestigeträchtigen Rom-Preises gemacht hatte. «Clari» ermöglichte ihm eine Theaterkarriere, die ihre Höhepunkte allerdings erst später erreichte, insbesondere mit «La Juive», die ihm internationalen Ruhm eintrug und als einziges seiner Werke bis heute einigermassen bekannt geblieben ist (das Zürcher Opernhaus hat es in dieser Saison ebenfalls herausgebracht).

Importierter Rossini

«Clari» wirkt dagegen wie ein Übungsstück. Vor allem im ersten Akt kommt die Musik nicht vorwärts, und sie führt auch unter keinerlei Oberflächen. Die musikalischen Formulierungen bleiben floskelhaft, die Figuren und ihre Gefühle entsprechend unscharf. Das Feuerwerk der Koloraturen verpufft, und nicht einmal das bunteste Bühnen-geschehen kann über die klangliche Blässe hinwegtäuschen.

Woran es fehlt, zeigt sich im zweiten Akt, wo Clari mit «Assisa a piè del salice» eine schlichte, tief ergreifende Klagearie anstimmt - die allerdings aus Rossinis «Otello» stammt und ganz im Sinn der damaligen Aufführungstradition für die Zürcher Produktion eingefügt wurde. Auch im dritten Akt, wo sich Halévy und mit ihm das Orchester deutlich steigert (und der Duca endlich einmal zeigen darf, was er kann), ist die beste Arie eine importierte. «Parmi una voce il murmure» stammt von Halévy selbst, aus «La Tempesta» von 1850, und in den irrwitzigen Sprüngen, den treffsicheren Läufen und prägnanten Stimmungsumschwüngen ist nicht zu überhören, wie viel er seit «Clari» gelernt hat.

Die Malibran hat diese Arie nie gesungen, sie war 14 Jahre davor an den Folgen eines Reitunfalls gestorben. Aber ihre Nachfolgerin Cecilia Bartoli löst damit einen gewaltigen Premierenjubel aus - auch wenn das eigentliche Happyend in der «Clari»-Partitur dann erst noch folgt.

Es liegt nicht an der holzschnittartigen Geschichte. Die Musik legt den Abend lahm.