Viel Zucker für den Affen

Herbert Büttiker, Der Landbote (26.05.2008)

Clari, 23.05.2008, Zürich

Als Hommage an Maria Malibran, den Megastar der Romantik, zeigt das Opernhaus Jacques Halévys gänzlich unbekannte Oper «Clari», die für diese Sängerin geschrieben wurde. Aber es war auch ein Abend mit und für Cecilia Bartoli.

Der dritte Akt hat seine wunderbaren Momente. Der Graf, der das Bauernmädchen Clari liebt, aber aus gesellschaftlichen Rücksichten eben doch hinhält, bis sie mit Selbstmord droht und flieht, sucht sie verzweifelt und hofft, sie in ihrem Elternhaus zu finden. Hier ist der Moment für Szene und Arie des Tenors. Sie mündet in eine Preghiera, ein Gebet, und natürlich erinnert man sich an die Szene Eléazars in «La Juive», Halévys Hauptwerk, das anfangs Saison im Opernhaus eine Neuinszenierung erlebte. Auch hier überwältigt die emotionale Kraft der melodischen Phrase, der bekenntnishafte Ausbruch.

«Clari», ein Werk des knapp Dreissigjährigen, 1828 für das Théâtre Italien komponiert, sieben Jahre vor der Uraufführung der «Juive» an der Opéra, hat nicht die Brisanz des grossen tragischen Stoffes, sondern erzählt eher eine rührende Geschichte, in der auch das Happy End nicht ausbleibt. Aber gleichwohl, hier vor dem Haus oder, wie die Zürcher Bühne jetzt zeigt, im Luxus-Van in weiter Gebirgslandschaft unterwegs, hat der Tenor seine Stunde der Prüfung in doppelter Hinsicht, und mit John Osborne steht als Duca ein Sänger auf der Bühne, der zur Eleganz und Agilität des Rossini-Tenors die Intensität fügt, die unmittelbar packt.

Der junge Halévy beherrscht den italienischen Zeitstil, seine Musik geht ins Ohr, ist aber nie belanglos, und sie nimmt ihre Figuren ernst, den hin und her gerissenen Grafen und die Unschuld vom Land. Die Inszenierung allerdings verwechselt vor allem im ersten Akt die Opera semiseria mit der Farce. Das ändert sich zum Glück im weiteren Verlauf des Abends. Dass die märchenhaft schlichte Geschichte durch Komik und Groteske an Tiefe gewinnen kann, zeigt der dritte Akt nach der Tenorszene.

Hier sehen wir, mit Liebe zum Detail bis ins Skurrile und Sinn für den ästhetischen Reiz eines klaren Bühnenbildes, die schäbige Haushaltung von Claris Eltern, die den Verlust der Tochter respektive die vermeintliche Familienschande nicht verschmerzen. und diese Szenerie allein wäre Beleg genug, dass mit Moshe Leiser und Patrice Caurier (Inszenierung), Christian Fenouillat (Bühnenbild) und Agostino Cavalca (Kostüme) ein Inszenierungsteam am Werk ist, das sein Handwerk perfekt beherrscht.

Anrührend komisch

Für Stefania Kalzua als verhärmte Simonetta und Carlos Chausson als hadernden Alberto ist die Szene eine Sternstunde darstellerischer Kunst. Wie sie trinkt, wie er vor dem Fernseher sitzt, die ganze Tristesse am Küchentisch, wie er sich schliesslich an einem Fleischhaken zwischen Schinken und Salami aufhängen würde, käme nicht die Tochter dazwischen – das alles ist unglaublich komisch und anrührend zugleich. Halévy liefert dazu eine erstaunlich farbige musikalische Vorgabe, und wie die Wiedererkennungsszene austariert und ausgekostet und dann mit dem auftretenden Grafen die Lösung bündig und augenzwinkernd herbeigeführt wird, ist ein dramaturgisches Kabinettstück im Zusammenspiel von Musik und Inszenierung.

Gesangskunst im Spital

Aber dann gibt es zum Schluss noch Bartoli-Zirkus. Ihre Hommage an Maria Malibran (1808–1836) krönt die Verehrerin der gloriosen Rossini- und Bellini-Interpretin mit einer virtuosen Arie aus Halévys Oper «La tempesta», die Shakespeares «Sturm» zur Vorlage hat und 1850 in London zur Aufführung kam – lange nach dem Tod der Sängerin, die erst 28-jährig nach einem Sturz vom Pferd in Manchester starb. Ein Missgriff ist die Szene aber nicht deswegen, sondern weil hier noch einmal kulminiert, was Bartolis Gestaltung der Clari von Beginn weg so problematisch macht. «Mehr Übertreibung als Ausdruck»: Das Wort eines im Programmheft zitierten Kritikers von Malibrans Kunst trifft zu auf Spiel und Gesang ihrer Adeptin. Die zuckrige Musikalität einer stark tremolierenden Stimme, dazu Mimik und Gestik, in der die Naivität der Figur in die Infantilität der Darstellung kippt – das kann gerade in einer Inszenierung nicht funktionieren, die mit der Persiflage der Bühnenkunst spielt, und dabei sehr weit und zum Teil auch zu weit geht.

Wenn da alles hineinfällt, bleibt statt der Spannung, Vielschichtigkeit, Raffinesse ein plattes Chargieren, das den ersten Akt in ein buchstäbliches Affentheater (ein roter Gorilla mit Leuchtaugen gehört zur Festdekoration) und die Schlussszene in Kitsch münden lässt, über dessen Unterhaltungswert streiten mag, wer will. Ihre stärkste Szene hat Bartoli im zweiten Akt – in der glänzend gestalteten Szenerie eines Spitals – mit dem Weidelied der Desdemona aus Rossinis «Otello», ein damaliger Praxis folgender Einschub, der, obwohl das Piano sehr zelebriert wird, die Figur für einmal ein Stück weit zu sich selber kommen lässt.

Musikalische Schönheiten

Köstlich bei sich beziehungsweise bei der musikalisch-darstellerischen Aufgabe ist von Beginn weg das Dienstpersonal des Grafen, allen voran Eva Liebau, aber auch Oliver Widmer und Giuseppe Scorsin. Das Orchester unter der Leitung von Adam Fischer verwaltet melodisch und dramatisch einfallsreiche Musik, die sich im Umfeld von Rossini oder dem jungen Donizetti nicht zu schämen braucht und authentisch ist: Die auf alten Instrumenten spielende «La scintilla» fördert viel anmutiges und expressives Kolorit zutage. Deren Klang ist bei dieser grossen Besetzung nicht sehr durchsichtig und konturenscharf, auch nicht schlackenlos, aber sie lässt vielfach mit sensibler Klangpoesie aufhorchen.

Halévys grosses Repertoirewerk «La Juive», das wird hier deutlich, war nicht ein Zufallstreffer, sondern basiert auf einem genuinen Talent, das sich in diesem Erstling manifestiert. «Clari» ist kaum die Entdeckung, die jetzt in allen Spielplänen Einzug hält, aber sie ist auch mehr als ein Vehikel für die eine oder andere Primadonnenfeier.