Mythische Familientragödie

Hanspeter Renggli, Der Bund (02.06.2008)

Médée, 31.05.2008, Bern

Am Stadttheater Bern sorgt Luigi Cherubinis Oper «Medea» in der Inszenierung von Jakob Peters-Messer für Begeisterungsstürme

Die polnische Sopranistin Elzbieta Szmytka beeindruckt als «Einspringerin» in der Titelrolle. Musikalische Interpretation und Inszenierung bewegen mit intensiven Momenten, zeigen aber auch Längen.

In Luigi Cherubinis Oper «Medea» sei, «was wir Musiker als das Höchste in dramatischer Musik anerkennen». Mit seiner Begeisterung für Cherubinis Oper war Brahms keineswegs allein. Die im nachrevolutionären Paris 1797 uraufgeführte Oper mit gesprochenen Dialogen galt seit jeher als Modell einer berührenden französischen Klassizität. Es war jedoch die Modellinterpretation von Maria Callas von 1963, welche die Hauptpartie der Medea als einzigartige sängerische wie szenische Herausforderung ins Bewusstsein rief.

Seelenqualen

Cherubinis «Medea» fusst auf dem antiken Drama des Euripides und der französischen Fassung von Corneille. Die mit Zauberkräften begabte Medea wird von ihrem Ehemann Jason (Giasone) verstossen, damit er in Korinth Glauce, die Tochter des Königs Kreon, heiraten kann. Medea hatte Jason einst zum Raub des goldenen Vlieses verholfen. Nun schenkt er dieses Symbol für Grösse und mythische Kräfte seiner neuen Braut. In auswegloser Situation schickt Medea der Nebenbuhlerin ihren tödlichen Brautschmuck, der diese in der Hochzeitsnacht umbringt, und tötet rasend vor Rache ihre beiden Kinder.

Die mythische Katastrophe, die auf erschreckende Weise weder Schuld noch Vergeltung kennt, hat der Regisseur Jakob Peters-Messer als Mischung aus rituellen Gesten und bürgerlicher Familiengeschichte inszeniert. Familientragödien sind eine gesellschaftliche Realität. Aber in Cherubinis Medea bricht die Rächerin mit der Gewalt eines Naturereignisses in die bürgerliche Gesellschaft ein.

Das Ereignis der Aufführung

Von nun an gehört die Bühne fast ausschliesslich Medea mit ihren Seelenqualen, die alle in ihren Bann zieht. Es gehört zu den Albträumen eines Theaterbetriebs, wenn Partien wie diese kurz vor der Premiere ersetzt werden müssen. Mit der Erkrankung von Leandra Overmann ist eben dieser Fall eingetreten. Mit Elzbieta Szmytka fand sich indessen nicht bloss ein Notersatz. Die polnische Sopranistin wuchs in der Rolle der Medea buchstäblich zum Ereignis der Berner Aufführung. Anfänglich aufgrund verständlicher Nervosität noch etwas intonationsunsicher, gewann durch sie die Titelpartie an einzigartiger Intensität. Szmytka wagte sich an die Grenzen der sängerischen Belastbarkeit und behauptete auch in extremis eine intensive Ausdrucksweise.

In dem von Markus Meyer geschaffenen Einheitsraum kontrastierte die Regie einfacher Anordnungen und ritueller Bewegungen wohltuend mit der Individualität der Hauptrolle. Es ist nicht in erster Linie die Personenführung, es sind vor allem die szenischen Details, die der Inszenierung eine besondere Note verleihen. So stehen die türkisfarbenen und weissen Kostüme (Sven Bildseil) dem zerschlissenen-schwarzen Umhang der Medea entgegen, so spiegelt sich der rote Lippenstift, den Jason seiner verstossenen Frau in erniedrigender Szene gewaltvoll aufträgt, am Ende im Blut in Jasons Gesicht, so schlägt Glauces Kriegsspiel mit den Kindern im ersten Bild einen Bogen zum Schluss, wenn Jason eben deren blutige Leichen auf die Bühne trägt.

Dazwischen zeigen sich aber auch Längen. Dazu mag die im ersten Teil etwas gar zurückhaltende und etwas akzentlose musikalische Wiedergabe seinen Teil beigetragen haben, wobei das Berner Symphonie-Orchester überaus diszipliniert spielt und nicht selten, wie beispielsweise im Fagottsolo in der Arie der Neris (Qin Du), Glanzlichter aufsetzt.

Beachtliche sängerische Leistung

Im zweiten Teil steigert Srboljub Dinic die musikalische Intensität deutlich. Carlos Esquivels (Creonte) gepflegte und Thomas Ruuds (Giasone) etwas angestrengte, aber lyrisch-dichte Stimme, Hélène Le Corres sichere Koloraturen und Qin Dus (Neris) anrührende Klage schufen die Garantie für eine insgesamt beachtenswerte sängerische Leistung. Dies gilt auch für die kleineren Partien (Anne-Florence Marbot und Silvia Oelschläger) und den Chor (Chorleitung: Lech-Rudolf Gorywoda), dem allerdings im Hochzeits-Chor etwas die Koordination abging. Dies gilt schliesslich für die erstaunliche Bühnensicherheit der beiden Buben Demian Morf und Xavier Sägesser als Medeas und Jasons Kinder.

Warum hier in Bern hart an der Sprachgrenze nicht auf die originale französische Fassung zurückgegriffen wurde, ist eigentlich bedauerlich. Aber auch hier dürfte die Macht der Gewohnheit im Vordergrund gestanden haben. Elzbieta Szmytkas kurzfristiges Engagement hat auch diesbezüglich alle Fragen beantwortet, wofür sich das Premierenpublikum in einem selten nachdrücklichen Beifallssturm bedankte.