Rastlose Rächerin der Herzen

Maria Künzli, Berner Zeitung (02.06.2008)

Médée, 31.05.2008, Bern

Blutrünstig in den Sommer: Das Stadttheater Bern zeigt in seiner letzten Opernproduktion der Saison Luigi Cherubinis «Medea». Elzbieta Szmytka sprang für die erkrankte Leandra Overmann ein – und wurde zu Recht gefeiert.

Nein, der sprichwörtliche Fels in der Brandung ist er nicht, vielmehr eine Bedrohung in scheinbarer Idylle: Das dunkel schimmernde Gestein hat sich einen Weg durch die Wand in den bürgerlichen Festsaal des Königshofes gebahnt. Hier ist er ein Fremdkörper zwischen edlen Tapeten und unedlen Machenschaften – das Sandkorn im Getriebe des schönen Scheins.

Das Sandkorn im Getriebe der Liebe ist Medea, die den «Felsen» ins Rollen gebracht hat. Der Sage nach hat sie aus Rache ihre Kinder und die Braut ihres untreuen Ehemannes Giasone (Jason) ermordet. Diese tragische Figur der griechischen Mythologie hat schon zahlreiche Künstler inspiriert. Die bedeutendste Oper stammt von Luigi Cherubini. In einer Inszenierung von Jakob Peters-Messer feierte sie am Samstag im Stadttheater Bern Premiere.

Luigi Cherubini lässt die Sage in seiner 1797 entstandenen Oper an Kreons Hof in Korinth beginnen, wo Hochzeit gefeiert werden soll. Hierhin waren Medea (Elzbieta Szmytka) und Giasone (Thomas Ruud) nach der Eroberung des Goldenen Vlieses geflohen. Doch kurze Zeit später verliebte sich Giasone in Glauce (Hélène Le Corre), die Tochter des Königs (Carlos Esquivel), verliess Medea und entriss ihr die Kinder. Überraschend taucht Medea nun am Hof auf, und die grauenvolle Geschichte nimmt ihren Lauf. Dabei zeichnet Cherubini ein differenziertes Bild der zerrissenen Zauberin: Sie ist eine kaltblütige Kindesmörderin, ein verzweifeltes Opfer und eine liebende Mutter. Glaubhaft schildert die Musik diese Zerrissenheit. Mit weichen Gesangslinien und einer reichen, auf tonmalerische Wirkung setzenden Orchestrierung.

Glück im Unglück

Cherubinis Ansprüche an die Sänger sind enorm, er verlangt haarsträubende Stimmungs- und schnelle Lagenwechsel. Pech, wenn da die Hauptrolle ausfällt: Leandra Overmann war an der Berner Premiere wegen einer Kehlkopfentzündung verhindert. Glück aber, wenn kurzfristig solcher Ersatz gefunden werden kann: Letzten Mittwoch wurde die polnische Sopranistin Elzbieta Szmytka eingeflogen – drei Tage später sang und spielte sie das durchwegs solide Ensemble an die Wand.

Ihre Interpretation der Medea ist intensiv und eindringlich: Mit ihrem hellen Sopran schöpft sie zwar nicht sämtliche stimmlichen Möglichkeiten und Extreme der Rolle aus, zeichnet aber dennoch die zerbrechliche Medea ebenso glaubwürdig wie die rasende Rächerin. Man hört und sieht, wie das Böse überhandnimmt, wie sich die irren Züge in Medeas Seele einschleichen.

Jakob Peters-Messer führt Cherubinis psychologische Feinzeichnung in seiner Inszenierung fort und setzt auf eine wirkungsvolle, wenn auch zwischendurch etwas plakative Farb- und Bildsprache: Eine herrschaftliche Tapete ziert die Wände (Bühne: Markus Meyer). An Pendel erinnernde Lampen schweben bedrohlich über der Idylle in Blaugrün. Als Medea mit Perücke, Sonnenbrille und Domina-Outfit auftaucht, wird diese Harmonie buchstäblich erschüttert – mit einem Felsen, der in die Wand einbricht. Sobald jedoch Medea ihre Verkleidung ablegt, betont die Inszenierung die verletzliche, «nackte» Seite der Figur und stellt sie der heuchlerischen Gesellschaft gegenüber.

Hölzerne Sprechpassagen

In Bern ist «Medea» in der von Arturo Toscanini (1909) in Auftrag gegebenen italienischen Fassung zu sehen. Neben gesungene Rezitative wurden aber wieder, wie im Original, gesprochene Dialogpassagen gestellt und mit den originalen Musiknummern von Cherubini verbunden. Bei einigen Sängern gestalteten sich diese Sprechpassagen als zu schwierig: hölzern und undeutlich in der Aussprache.

Alles andere als hölzern agierte das Berner Symphonie-Orchester unter der Leitung von Srboljub Dinic: Von der lebhaften Ouvertüre bis zum bitteren Ende spielte es engagiert und präzise, die musikalischen Motive fein herausarbeitend. Auch der Chor stellte Medea als Volk, Bedienstete und Argonauten leidenschaftlich und stimmgewaltig an den Pranger.

So steht Medea am Ende auf der Bühne, blickt mit blutigen Händen und beschmutzter Seele ins Publikum – straft es mit Blicken. Man fühlt sich ertappt wie ein Voyeur, dessen Versteck aufgeflogen ist. Ertappt auch, weil das Unfassbare eingetreten ist: Losgelöst von Kategorien wie Moral oder Schuld, fühlt man sich dieser Kindesmörderin verbunden.