Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (17.06.2008)
«Rinaldo» von Händel im Opernhaus Zürich
Es gab ausreichend Platz in der jüngsten Premiere des Opernhauses Zürich, nach der Pause waren die Reihen erst recht gelichtet: Der Fussball fordert seinen Tribut. In der Pause hinauszugehen, war nicht empfehlenswert, das brachte Strapaze für das auf feinere Klänge eingestellte Gehör. Aber drinnen in dem zum Teil mit neuen Fenstern versehenen Opernhaus war vom handfesten Betrieb in der benachbarten Fanzone nicht ein Hauch zu vernehmen. Immerhin.
Laut und leise
Es ist umso bemerkenswerter, als «Rinaldo», die erste Oper, die Georg Friedrich Händel 1711 für London schrieb (und dabei hemmungslos ältere Werke ausbeutete), nicht gerade mit triumphalen Tönen aufwartet. Sehr sparsam werden Pauken und Trompeten eingesetzt, auch die Oboen und die drei Blockflöten, die im ersten Akt einen lieblichen Garten mit Volieren ausmalen. Über weite Strecken herrscht der von einem Generalbass mit Cembalo und Theorbe getragene Klang der Streicher – und was das mit alten Instrumenten arbeitende Orchester La Scintilla der Oper Zürich unter der Leitung von William Christie hier an Vielfalt der Deklamation, der Klangfärbung, der Tongebung erzielte, war einmal mehr bewundernswert. Und das umso eher, als der Dirigent am zweiten Cembalo die orchestrale Virtuosität zuspitzt, manchmal gar so sehr, dass die Musikerinnen und Musiker kaum mehr nachkommen.
«Rinaldo» ist eine klassische Operngeschichte mit einer Spannung zwischen Liebe und Pflicht, aber angereichert durch zahlreiche effektvolle Einbrüche des Zauberischen. Vor den Mauern Jerusalems liegt zur Zeit der ersten Kreuzzüge ein christliches Heer mit Goffredo an der Spitze; begleitet wird der Chef von seinem Bruder Eustazio und seiner Tochter Almirena, die dem heldenhaften Offizier Rinaldo zugewandt ist. Auf der anderen Seite die bösen Sarazenen mit Argante, dem König von Jerusalem, und seiner Geliebten, der Zauberin Armida. Hin und her, bisweilen wild übers Kreuz wogt das Geschehen, immer wieder gibt es Blitz und Donner, und niemand kann sicher sein, ob sich hinter einer Figur nicht die Zauberin verbirgt, die sich wieder einer der Gestalten bemächtigt hat.
Was im frühen 18. Jahrhundert sensationellen Effekt gemacht haben soll, kann im digitalen Zeitalter nicht eins zu eins wiedergegeben werden. Weshalb sich die Produktion zum einen darauf verlegt, das Zauberische im Instrumentalen zu spiegeln; tatsächlich sparen Christie und La Scintilla nicht mit orchestralen Überraschungen. Zum anderen setzt die Inszenierung, die von Claus Guth erdacht worden ist, aus gesundheitlichen Gründen dann aber nicht von ihm betreut werden konnte und darum von Jens-Daniel Herzog ausgeführt wurde, auf den Witz und die damit verbundene Distanzierung. Auch hier wird freilich gern des Guten zu viel getan, jedenfalls ergibt sich da und dort der Eindruck, das Szenische führe sich doch allzu laut auf und sei dem Musikalischen in eigenartiger Weise übergestülpt.
Noch zur dreiteiligen Ouverture öffnet sich der Vorhang und fällt der Blick auf die Halle eines x-beliebigen Viersternhotels in gehobenem Nullachtfünfzehn-Design – die Konsequenz, mit welcher der Ausstatter Cristian Schmidt dieses Bild ausgeführt hat, und die Wandelbarkeit, die er auf der Drehbühne erzielt, zeugen von Imagination und Handwerk. Nicht Kreuzfahrer werden gezeigt, sondern die modernen Krieger auf dem Schlachtfeld des Marktes: Herren in mausgrauen Anzügen, Damen in ebensolchen Deux-Pièces, alle gleich und alle mit den gleichen einschlägigen Köfferchen versehen (und wie dadurch das Ballett ins Geschehen integriert ist, darf als genialer Schachzug angesehen werden). Die Sarazenen unterscheiden sich von den Christen durch die wohlbekannte Kopfbedeckung und einen eher körperbetonten Führungsstil, nicht aber durch das edle Schreibgerät, mit dem am Schluss der sogenannte Friedensvertrag unterzeichnet wird.
Witz und Abnutzung
Das hat seine erheiternde Seite, wirkt auf die Länge aber doch ermüdend – schon vor der Pause, vor allem aber im zweiten Teil. Überhaupt wirkt der Abend von seltsamer Einförmigkeit belastet. Warum? Ist es die Fixierung auf die Form der Da-capo-Arie, in deren wiederholten Teilen sehr zurückhaltend verziert wird? Oder die Tatsache, dass ausser dem Bösewicht Argante und einer kleinen Nebenrolle alle Partien, also auch die der Männer, für hohe Stimmen gesetzt sind: zu Händels Zeit für Kastraten oder, da diese Praxis schon damals umstritten war, für Frauen? Das mag sein. In der Zürcher Produktion gibt es aber einen anderen, ganz wesentlichen Grund dafür.
In der Rolle des Rinaldo bewährt sich Juliette Galstian ausgezeichnet; sie hat eine Stimme von begrenztem Volumen, die halsbrecherischen Koloraturen bewältigt sie aber meisterhaft. Liliana Nikiteanu (Goffredo), Katharina Peetz (Eustazio), Ann Helen Moen (Almirena), auf der anderen Seite Ruben Drole (Argante) und Malin Hartelius (Armida) sowie, in der kleinen Rolle des christlichen Zauberers, Irène Friedli – sie leisten allesamt tadellose Arbeit. Aber sie sind Mitglieder des Zürcher Opernensembles, entstammen also nicht in einer genuinen Weise der historischen Aufführungspraxis, die sich mittlerweile auch im Vokalen kräftig ausgebildet hat. Anderswo arbeitet William Christie mit Spezialisten – so wie es René Jacobs tut, der vor fünf Jahren in der Staatsoper Unter den Linden, Berlin, einen unvergesslichen «Rinaldo» dirigiert hat. Überdeutlich wurde damals, dass «Lascia ch'io pianga», die Arie der Almirena im zweiten Akt, zu den schönsten Stücken gehört, die Händel geglückt sind. In Zürich bekommt man davon nur eine knappe Ahnung.