Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (30.06.2008)
Festspielpremiere im Zürcher Opernhaus: Bizets «Carmen»
Einiges war ungewöhnlich an dieser Festspielpremiere von Georges Bizets «Carmen» im Zürcher Opernhaus: Es war die letzte Neuproduktion, die Franz Welser-Möst als Generalmusikdirektor des Hauses leitete, Vesselina Kasarova sang erstmals die Titelpartie, und dank (zeitverschobener) Live-Übertragung in die Public-Viewing-Arena konnten Tausende die Aufführung auf der Sechseläutenwiese miterleben. Ungewöhnlich wollte auch das Inszenierungskonzept des Regie führenden Schauspielhaus-Intendanten Matthias Hartmann sein: Keine spanische Folklore, keine Zigeunerromantik, keine Bilderfülle, wie sie die im Opernhaus zwei Jahrzehnte lang gespielte Ponnelle-Inszenierung geboten hatte. Stattdessen Teatro povero, mediterran situiert durch das helle Licht, die schlichten Kostüme (Su Bühler) und den Olivenbaum des Schlussbildes.
Mediterranes Teatro povero
Als Spielfläche dient eine nach vorn abfallende, von einem Rundhorizont umfasste Kreisscheibe, Platz vor der Zigarrenfabrik, Schenke, Schmugglerlager und Arena in einem (Bühne Volker Hintermeier). Unter den Ausstattungsstücken fallen ein Leitungsmast und ein Hund auf – Überbleibsel aus der vielgeschmähten, kurzlebigen letzten «Carmen»-Produktion, die vor genau sechs Jahren in Szene ging? Nein, Hartmanns Lesart gibt sich unkonventionell auf andere Art. Sein Hund wedelt zutraulich mit dem Schwanz und wackelt mit den Ohren Beifall für Carmens Habanera, und auch sonst fehlt es zu Beginn nicht an ein paar neckischen Aperçus, denn schliesslich ist «Carmen» ja als Opéra comique komponiert worden.
Doch das Lächeln wird einem schnell ausgetrieben. Von Anfang an steht bei Hartmann die Beziehung zwischen Carmen und Don José im Zentrum, und diese nimmt einen unausweichlich tragischen Verlauf. Dass Hartmann auf alles anekdotische Beiwerk verzichtet, dass er das bunte Treiben vor der Fabrik und vor der Arena vom Chor referieren lässt, als fände es im Zuschauerraum statt, wäre kein Verlust, würde er diesen Chor einfallsreicher, weniger repetitiv führen. Was aber geschieht mit dem Protagonistenpaar, wenn ein versierter Schauspielregisseur sich seiner annimmt?
Das Bild des Sergeanten Don José, der sich aus Liebe zu Carmen einsperren und degradieren lässt, der zum Schmuggler und schliesslich zum Mörder wird, verändert sich eigentlich kaum. In der ersten, am genauesten ausgearbeiteten Szene setzt Hartmann zwar einige Akzente, die Don Josés Rechtschaffenheit fast bis zur Lächerlichkeit verdeutlichen. Doch immer mehr behauptet sich dann das traditionelle Rollenbild des in seiner Leidenschaft und Eifersucht jegliche Selbstkontrolle verlierenden Liebenden. Dieses allerdings gewinnt durch Jonas Kaufmann eine hinreissende Intensität. Das wirklich Besondere an seinem Don José ist indessen seine Stimme: dieser baritonal gefärbte, leicht verschleierte Tenor, der nicht nur über enorme Kraftreserven, sondern immer wieder auch über ein ergreifend zartes, fast gehauchtes Piano verfügt.
Eine Figur im Werden
Anders als für ihren Partner ist es für Vesselina Kasarova die erste «Carmen», und das konnte man am Premierenabend spüren, nicht nur, weil ihr kostbarer Mezzosopran bis zur vollen Entfaltung seiner Resonanz eine gewisse Aufwärmzeit benötigte. Umso faszinierender war es dann, das Werden einer Figur mitzuerleben, einer Figur, die nicht einfach eine weitere Partie im grossen Repertoire dieser Künstlerin ist, sondern den Schritt in ein neues, dramatischeres Fach bedeutet. Das Début bestätigte, dass sie stimmlich reif dafür ist: ausladend der grosse Ton, glühend strahlkräftig die Höhe, von praller Sinnlichkeit die Tiefe, und dazwischen die ganze reiche Farbpalette, die sich Vesselina Kasarova bei Mozart und im Belcanto-Fach angeeignet hat, zusammen mit den wundersamen, von Franz Welser-Möst sensibel mitgetragenen Piani. Doch nicht nur stimmlich, auch darstellerisch weicht Kasarovas Carmen vom gewohnten, über Jahrzehnte (nicht nur in Zürich) von Agnes Baltsa geprägten Rollenbild ab. Sie ist nicht die wilde, Männer konsumierende Zigeunerin, sondern eine in ihrem Handeln sehr kontrollierte Frau, die genau weiss, was sie will – und auch, wie sie ihren Willen durchsetzen kann –, eine Frau, die ihren Weg konsequent und im Bewusstsein aller Konsequenzen geht, bis in den Tod, den sie – das spiegelt sich in Kasarovas unglaublich sprechender Mimik – antizipiert im Moment, da Don José bei der Trennung seine Rückkehr ankündigt. Der Auftritt an der Seite des gefeierten Toreros ist dann nur ein kurzer Aufschub, ohne Triumph, voller Melancholie. In der Todesszene aber wird die Sängerin, auf dünnen Absätzen, die so wenig zum schlichten Kleid passen, auf der Kreisscheibe rotierend, von der Regie ziemlich allein gelassen, da ist nicht Carmen, sondern Don José die zentrale Gestalt. Mit Micaëla und Escamillo scheint sich Hartmann nur wenig befasst zu haben. Isabel Rey zeichnet die treue und eigentlich sehr mutige Jugendfreundin Don Josés bieder und brav und bleibt auch vokal etwas gehemmt. Michele Pertusi dürfte das traditionelle Imponiergehabe des Stierkämpfers immerhin lieber sein als die Spukgestalt, die er in der letzten Zürcher «Carmen» zu verkörpern hatte, und er bringt seinen kompakten, sonoren Bariton zu voller Wirkung. Hochkarätig besetzt sind die Nebenrollen: Judith Schmid und Sen Guo als Carmens Gefährtinnen Mercédès und Frasquita – sie bilden hier wirklich ein Trio –, Gabriel Bermúdez als Dancaïre und Javier Camarena als Remendado. Moralès (Kreimir Straanac) wird aufgewertet, indem er die meist gestrichene Pantomime vorzutragen hat, und der (Polizei-)Offizier Zuniga (Morgan Moody), der Don José mit Carmen überrascht, wird nicht bloss gefesselt, sondern umgebracht. Dass die Zigeuner danach ihre blutigen Hände zeigen, hätte man dem Regisseur verbieten müssen, allzu plakativ und billig ist dieser viel verwendete Effekt mittlerweile.
Doch so sehr es der Inszenierung an Kohärenz und Zielrichtung mangelt, in Franz Welser-Möst hat die Aufführung einen musikalischen Leiter, der Einheit zu stiften vermag (und dabei durch die Verwendung der von Guiraud nachkomponierten Rezitative unterstützt wird). Seine «Carmen»-Interpretation vereinigt nochmals, was seine Dirigate am Opernhaus seit Jahren ausgezeichnet hat: die Weichheit und Geschmeidigkeit des Klanges, die ausgeprägte Piano-Kultur, welche explosive dramatische Kulminationspunkte keineswegs ausschliesst, den sorgsam ausgearbeiteten Linienfluss, die feinhörige Abstimmung auf die Sängerstimmen. Und das Orchester bestätigte mit seinem engagierten, reaktionsschnellen Musizieren ungeachtet einiger Patzer das hohe Niveau, das sein scheidender Leiter in kontinuierlicher Aufbauarbeit erreicht hat.