Peter Vujica, Der Standard (30.06.2008)
Franz Welser-Möst dirigierte, und der künftige Chef des Burgtheaters, Matthias Hartmann, führte Regie im Opernhaus
Nach anfänglicher Belanglosigkeit steigerte sich die Produktion zum bejubelten Epos der Leidenschaft.
Der Zufall wollte es, dass Franz Welser-Möst zu sehen war, als er vor der Carmen-Premiere, mit einer großen Tasche beladen, seinen Weg zum Zürcher Opernhaus nahm. Die den Beobachter berührende, beinah gotische Unauffälligkeit, die er dabei ausstrahlte, nährte allerdings eine gewisse Skepsis, ob denn dieses Werk in seiner Musik gewordenen tödlichen Leidenschaftlichkeit die angestammten Gefühlsbezirke sind, in denen der künftige Musikchef der Staatsoper wurzelt.
Und bis zur Pause wehrte man sich gegen die nur schwer abweisbaren Empfindungen, welche diese Skepsis bestätigten. Was man in den beiden ersten Akten musikalisch, aber auch szenisch vermisste, war die affektgenerierte Schubkraft, ohne die alle Vorgänge in Beliebigkeit versanden. Das Orchester war zwar mit raschem Puls schnell genug unterwegs, es war, hätte man nach Dezibel gemessen, auch laut genug, aber trotz allem, es fehlte die Empfindung. Die Musik suggerierte den Inhalt des Werkes nur kaum oder gar nicht.
Dazu kommt, dass Vesselina Kasarova als Titelgestalt gegenwärtig möglicherweise an einem Netrebko-Komplex leidet. Es schien, als möchte sie die in ihrem Schöngesang zur Zeit unüberbietbare Babypausierende mit einer bis zum Exzess verfeinerten, virtuosen Stimmartistik überbieten, die im wahren Sinn des Wortes den Atem beraubt. Nämlich auch den ihren. Schon in ihrem Auftrittslied drosselt sie ihre Stimme fast zu einem Flüstern, das unvermittelt durch ein paar an Zarah Leander gemahnende Töne unterbrochen wird.
Sogar das wäre zweifellos ein diskutabler Ansatz gewesen. Doch bei diesem letztlich auf Ebenmaß bedachtem orchestralem Umfeld wirkte diese Carmen stimmlich einfach brüchig und entsprach damit einigermaßen ihrem Don José. Jonas Kaufmann wirkte vor allem im ersten Akt stimmlich so unfrei, sodass man für die Blumenarie und das Finale schon die schlimmsten Befürchtungen hegte.
Und um das Unvollkommene vollkommen zu machen, ist im ersten Teil auch dem künftigen Chef des Wiener Burgtheaters, Matthias Hartmann, in seiner Inszenierung bis auf einen ausgestopften Hund, der schon vor Beginn der Vorstellung vor dem Vorhang liegt und, wenn ihn jemand das Fell krault, zum allgemeinen Gelächter mit dem Schwanz wedelt, nicht viel eingefallen. Außer dass Micaela im Verlauf einer von den vor Carmens Arbeitsstätte streunenden Soldaten illegal durchgeführten Leibesvisitation ihres Kleides verlustig geht und danach in bäuerlichen Dessous das Weite sucht.
Dass in der Schenke von Lillas Pastia in einem Fernseher ein Fußballspiel übertragen wird, mag vielleicht ebenfalls als szenischer Einfall gelten. Da auch Michele Pertussi als Escamillo stimmlich mit gleich unauffälliger aber irgendwie hinreichender stimmlicher Qualität agierte wie Isabel Rey als Micaela, hatte man sich nach der Pause darauf eingestellt, in diesem unauffälligen, aber dennoch reichlich kritikanfälligen Bizet-Bemühen noch einen Akt lang weiterzudämmern.
Zweikampf wie im "Tatort"
Allerdings, die von Jonas Kaufmann mit großem emotionalem In- und plötzlich erstaunlichem tenoralem Output gesungene Blumenarie hätte schon im ersten Teil als Weckruf aus dem Opernkoma fungieren können. Auch der Zweikampf zwischen Don José und Zuniga, den Matthias Hartmann aus dem Duktus der Musik herausgelauscht hat, wäre auch jedem Tatort bestens angestanden.
Das waren vielleicht die Augen des geradezu bestürzenden Taifuns der Affekte, der nach der Pause von der Bühne und aus dem Orchestergraben über das Publikum hereinbrach. Während einer noch teilweise konventionell gestalteten Schmugglerszene, in deren Verlauf sich die Kumpane mit erhobenen Armen in guter Stadttheatermanier ermutigend zuwinken, gewinnen Carmen und Don José zunehmend an Identität. Und im Schlussbild, das Bühnenbildner Volker Hintermeier verblüffender Weise um einen großen Lorbeerbaum gruppiert, schaukeln sich szenische und musikalische Intensität bis zum tragischen Dolchstoß zu beklemmender Eindringlichkeit auf.
Vesselina Kasarova hat sich mit einem Mal ihre virtuose Stimmakrobatik abgeschminkt und folgte musikalisch dem Fluss der Emotionen. Was zu einer dichten musikdramatischen Einheit aus Trotz und Todesverachtung führte. Und hier hat sich Jonas Kaufmann sehr kompetent eingeklinkt, um letztlich im Kampf auf Leben und Bühnentod als Sängerdarsteller zu triumphieren.
Das Orchester spielt auf gewohnte Weise weiter und trotzdem erhält plötzlich jeder Ton einen unabweisbaren dramatischen Belang. Was da in einem Dirigenten und im Orchester vor sich geht, lässt sich zwar blumenreich beschreiben, wird im Grunde aber immer ein Geheimnis bleiben. So dass man Franz Welser-Möst, der eine Weile nach der Premiere wieder ganz allein des Weges kam, nur herzlich gratulieren konnte.