Beklemmend lustige Scheinwelten

Martin Preisser, Der Landbote (08.09.2008)

Il mondo della luna, 05.09.2008, St. Gallen

Am Freitag hatte am Theater St. Gallen Haydns Dramma giocoso «Il mondo della luna» Premiere. Die Aufführung geriet zum fulminanten Einstieg in die neue Saison und für den neuen Chefdirigenten David Stern.

Das Kapitel über Drogen wie Ecstasy, Haschisch, Kokain oder Poppers im Programmheft zeigt den Weg an, den diese Inszenierung der Haydn-Oper «Il mondo della luna» geht: Der Stoff wird entstaubt und das Libretto von Goldoni konsequent mit den Erfahrungen unserer Zeit gelesen. Regisseur Aron Stiehl gelingt die Gratwanderung zwischen erheiternder Opera-buffa-Atmosphäre und einem deutlich nachdenklichen Zug hinter all dem Klamauk um einen Zaubertrank, dank dem sich Buonafede auf dem Mond wähnt und zum wehrlosen Spielball intriganter Interessen wird. Stiehl schafft eine Inszenierung, die trotz zeitgemässen Zuschnitts der sonnigen Kraft der Musik Haydns voll Rechnung trägt.
Hier wird nicht mit blossen Regieeinfällen irgendeine komödiantische Welt des 18. Jahrhunderts ein wenig auf modern «gepeppt». Aron Stiehl hat sich genau Gedanken gemacht darüber, was diese Opera buffa mit uns heute zu tun haben könnte. «Es ist schade, dass Buonafede erst in einer halluzinogenen Traumwelt seine Menschlichkeit offenbaren kann. Unter Drogeneinfluss zeigt er seine wahre Seele. Dem modernen Menschen Buonafede gelingt es nur durch illegale Hilfsmittel das eigentlich Wahre im Leben zu erkennen», formuliert es Stiehl selbst.

Faszinierende Spannung

Der Star des Premierenabends ist Buonafede, sängerisch kraftvoll lupenrein und schauspielerisch packend. Wenn Paolo Bordogna wie ein Frosch am Seil nach oben schwebt, wenn er sich am Bühnenrand umziehen muss, wenn er sexuelle Praktiken andeutet und schon einmal das Sklavenhalsband umgelegt bekommt, wenn er auf dem Mond das Leben dort aus Ballermann-Sicht anschaut – Buonafede, der widerliche Macho, dem der Mond gefällt, weil dort alte Männer mit jungen Frauen zusammen sind und Ehemänner ungehindert prügeln dürfen: Am Ende wird er zum einsamen Opfer, die Scheinwelten im Drogenrausch sind verflogen. Stringent wird diese Gratwanderung zwischen amüsanter Unterhaltung und doch letztlich beklemmender Botschaft ausgespielt.
Mag da eine Szene mit Pfadfindern befremden, die plötzlich ihre Revolver zücken und so das unberechenbare Kippen der Realität in Zerstörerisches andeuten: Faszinierend ist die Spannung zwischen einem modern gelesenen Operntext und der zeitlos schönen Kraft einer Musik, die solch modernes Geschehen mitträgt.

Neue Leichtigkeit

Der neue Chefdirigent des Sinfonieorchesters St. Gallen, David Stern, nutzte die Premiere für einen fulminanten und daher umjubelten Start. Als Spezialist für historische Aufführungspraxis schien er dem Orchester neue Leichtigkeit einzuhauchen. Nichts geriet in dieser variantenreichen Musik schwerfällig, wie Federbälle warf Stern den Sängern die Harmonien zu und garantierte herrliche Verzahnung. Da muss der Dirigent schon einmal ein Foto vom Bühnengeschehen machen. Kleider fliegen in den Orchestergraben, der Kontrabassist schält sich das Phallussymbol Banane. Das Cembalo tremoliert perfekt synchron mit der zittrigen Hand, die den Zaubertrank hält. Das sind kleine Verzahnungs-Gags, die der Spannung auf einem futuristisch anmutenden Bühnenbild keinen Abbruch tun.
Das Operngeschehen siedelt die Inszenierung im modernen italienischen Milieu an. Und «Il mondo della luna» ist eindeutig eine Männeroper. Die herrlich ausgesungenen Rollen von Ecclitico (Riccardo Botta). Ernesto (Thierry Félix) und Cecco (Gregory Warren) prägen das Geschehen. Wie Gestirne kreisen sie um «Buonafede». Die Frauen sind nur dazu da, um verheiratet zu werden, entsprechend preisen sie sich an, auch via Handy. Kraftvoll präsent Clarice (Evelyn Pollock) und Flaminia (Andrea Lang), an der Premiere etwas zurückhaltender Lisetta (Katja Starke). Hängt im ersten Akt ein riesiges Fernrohr auf der Bühne, wird die Mondlandschaft des zweiten Aktes von Mars- und Milky-Way-Kissen und einer riesigen Steckdose dominiert. Ballermann-Buonafede sitzt bierseelig dösend in der Ecke.
Und nach der Pause gelingt der Inszenierung wohl das Packendste. Bis auf eine Figur, Buonafede nämlich, tragen alle Figuren Puppen vor sich her, kostümtechnisch beeindruckend umgesetzt (von Jürgen Kirner, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet). Die Puppen übernehmen die Rollen der Sänger, die zu Puppenspielern werden. Rund eine Stunde wird diese Doppelwelt durchgehalten und damit die Ambivalenz von Komik und Beklemmung.
Wer eine biedere frühklassische Oper sehen will, sollte sich «Il mondo della luna» nicht anschauen. Wer fein ausziselierten Haydn hören will, der sollte unbedingt hingehen. Diese Mond-Komödie ist beeindruckend im Drogenzeitalter angekommen. Goldonis Zaubertrankstoff hat auch heute seine Gültigkeit. Aron Stiehl rüttelt mit seiner Sicht des Stoffes wach. Und David Sterns authentischer Haydn-Klang wird dadurch nie geschmälert. Im Gegenteil.