Sprung vom schiefen Turm

Verena Naegele, St. Galler Tagblatt (16.09.2008)

Lucia di Lammermoor, 14.09.2008, Zürich

Donizettis «Lucia di Lammermoor» am Opernhaus Zürich

Zum Saisonauftakt präsentiert das Opernhaus Zürich Donizettis «Lucia di Lammermoor» als Zerreissprobe zwischen Macht und Gefühlen.

Die Welt der Ashtons und Ravenswoods ist von Beginn an aus den Fugen, und blutrot ist Rache und Verderben. So einfach sind die dramaturgischen Botschaften von Regisseur Damiano Michieletto und Bühnenbildner Paolo Fantin in ihrer Lesart von Donizettis Schauerdrama «Lucia di Lammermoor». Ein schiefer, halb zerstörter gläserner Turm steht für die Versehrtheit dieser Welt, die Farbe Rot von der Rose über den verwunschenen Ziehbrunnen bis hin zur glutrot beleuchteten Bühne in der Wahnsinnsarie für das unerbittliche Fatum.

Volltrunken romantisch

Die Information ist simpel, die Wirkung nicht berauschend, aber strukturiert. Und sie lenkt das rabenschwarze Schauerdrama in gangbare Bahnen. Hier spielen sich die beiden typischen Opernthemen des italienischen Belcanto von der hoffnungslosen Liebe und dem Rachedurst der Macht ab, in diesem Raum prallen der in weinrotem Ledermantel gekleidete Dandy Lord Enrico Ashton und der bildschöne wilde Edgardo mit schwarzer Lockenpracht aufeinander. Ausweglos zwischen Liebe und Macht zerrissen die Frau, Lucia, natürlich im weissen Brautkleid.

Der Klischees sind viele, und doch schafft das Regieteam den Spagat; einzig die «weisse Frau» (Rachel Braunschweig), die als leibhaftiges Fantasma den Weg Lucias begleitet, wirkt etwas aufgesetzt. Es ist eine typische Inszenierung im Sinne von Maestro Nello Santi, der die Musik in den Mittelpunkt stellen will. Über Santi, der sein 50jähriges Bühnenjubiläum feiert, konnte man an diesem Abend nur staunen, so süffig, volltrunken romantisch dirigierte er seinen Donizetti. Da war zwar (allzu) viel verwackelt, stimmte die Koordination zwischen Orchestergraben und Bühne nicht, aber trotzdem ergab sich ein tiefsinniger musikalischer Ausdruck des Seelischen.

Viel zu diesem Eindruck trug das Ensemble bei, das in diesem Protagonistenstück viel Homogenität bewies.

Elena Mosuc ist keine spektakulär kolorierende Lucia wie Vorgängerin Edita Gruberova, aber sie hat Wärme, Klarheit und hohen Ausdruck. Ihre Lucia ist eine Frau, der man glaubt, dass sie am Schluss vom schiefen Turm springt. Lord Enrico Ashton ist bei Massimo Cavalletti mit kernigem Bariton in guten Händen, er wirkt aber stimmlich monochrom und szenisch einförmig.

Gesamtschau der Gefühle

Ganz anders präsentiert sich da Vittorio Grigolo als Edgardo. Seine Bühnenpräsenz wirkt frisch und lebendig. Merkwürdig ist allerdings sein weitgehend aus der Bruststimme geführter Tenore leggero im Ansatz, da hört man kaum ein Legato, sondern eine Überdramatisierung einzelner Töne. Musikalisch am dichtesten ist die Zürcher Lucia in den Ensembles, in den Duetten, in den Chorszenen oder im grossartigen Sextett (mit dem dunklen Bass von Laszlo Polgar und dem samtigen Mezzosopran von Katharina Peetz). Es ist keine «Lucia» der Primadonnen, sondern eine Gesamtschau der Gefühle.