Bühne frei für grosse Gefühle

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (16.09.2008)

Lucia di Lammermoor, 14.09.2008, Zürich

Donizettis «Lucia di Lammermoor» im Zürcher Opernhaus

Es war eine der erfolgreichsten, meistgespielten Produktionen in der Geschichte des Zürcher Opernhauses: Von 1989 bis zur Spielzeit 2007/08 stand Robert Carsens Inszenierung von Gaetano Donizettis «Lucia di Lammermoor» im Spielplan. Die Titelpartie war längst von Edita Gruberova an jüngere Fachkolleginnen übergegangen, doch das Konzept hatte – bei einigen Modifikationen – Bestand, eine Interpretation aus emanzipatorischer Sicht, welche die Liebe Lucias zu Edgardo, dem Erbfeind ihrer Familie, an repressiven Macht- und Gesellschaftsstrukturen zerbrechen liess. Damals, bei der Premiere vor bald zwanzig Jahren, wirkte diese sozialkritische Lesart provokativ, heute ist sie Geschichte.

Zerstörte Seelen

Das junge italienische Team, dem Alexander Pereira die «Lucia»-Neuinszenierung anvertraut hat – der Regisseur Damiano Michieletto, der Bühnenbildner Paolo Fantin und die Kostümbildnerin Carla Teti –, setzt den Akzent wieder traditionell, auf die individuelle Liebes- und Familientragödie. Dafür steht von Beginn an die vom Regisseur erfundene weiss gekleidete Frau, die als Geist der von einem eifersüchtigen Ehemann ermordeten Ahnin Lucia wie ein Schatten begleitet. Die Uniformierten, die Edgardo mit Schäferhund und Scheinwerfern verfolgen, später das Mafia-Ritual seiner Ächtung durch die Festgesellschaft bei Lucias erzwungener Hochzeit mit Arturo (dem gleichförmig lauten Boiko Zvetanov): Das wirkt wie eine verblasste Reminiszenz politischen Theaters. Dabei ist Fantins Bildsprache durchaus modern. Ein verglaster, schiefstehender Hochhaus-Turm ist der Lebensort sowohl Edgardos wie Lucias und ihres Bruders Enrico, vor allem aber dient er als Symbol für eine zerstörte, aus dem Lot gebrachte Seelenwelt (und am Schluss als Sprungbrett für den spektakulären Todessturz Lucias).

Der Raum um diesen Turm, der dank seiner Transparenz für solistische und Chorauftritte genutzt werden kann, ist offen und wird von einem glitzernden dunklen Vorhang umfasst. Das ermöglicht eine effektvolle Bewegungsführung und lässt Carla Tetis elegante, farblich delikate Kostüme zu schönster Wirkung kommen, schafft aber akustisch schwierige Bedingungen. Damit mag zu erklären sein, dass die Darsteller der Männerrollen mit Ausnahme von László Polgár als noblem Raimondo ihre Stimmen fast durchweg forcieren. Der Bariton Massimo Cavalletti als Enrico legt sich dabei auf einen schweren, massigen Ton fest, der oft mehr dröhnend denn drohend klingt, und er untermalt dies mit einer düsteren Mimik. Glühende Leidenschaft ist dagegen das sängerische und darstellerische Markenzeichen des erstmals am Opernhaus auftretenden italienischen Tenors Vittorio Grigolo – so sehr, dass man gelegentlich um die im Timbre faszinierende, substanzreiche, mitreissend expressive Stimme bangt. Da scheint ein neuer Star in den Spuren Rolando Villazóns unterwegs zu sein, und man kann nur hoffen, dass Grigolo mit seinem kostbaren Material sorgsamer umgeht als jener. Für eine Belcanto-Partie wie Edgardo ist die Stimme wohl bereits etwas schwer, doch bald wird der junge Künstler hier auch in einer Verdi-Rolle zu hören sein, als Alfredo bei der bevorstehenden «Traviata»-Produktion im Zürcher Hauptbahnhof.

Virtuoser Belcanto

Für Belcanto in Reinkultur sorgt indessen Elena Moşuc. Sie, die schon in der Carsen-Inszenierung so oft als brillante Lucia zu erleben war, hat in der Arbeit mit Michieletto ihr Rollenbild noch wesentlich verfeinert und intensiviert und findet für die Zerrissenheit Lucias zwischen geheimer Liebe und Verpflichtung auf die Familienehre stimmlich wie darstellerisch feinste Ausdrucksschattierungen. In der Wahnsinnsszene aber wächst sie buchstäblich über sich hinaus. Wie sie diese in einem grossen Steigerungsbogen aufbaut, wie sie das Wechselspiel von Crescendo und Decrescendo handhabt, die Koloraturen perlen lässt, der Mittellage Fülle und Wärme verleiht, das zeigt die rumänische Sopranistin auf der Höhe virtuoser Meisterschaft und macht einzelne etwas scharf geratene Spitzentöne vergessen.

Gelohnt hat sich die Neuinszenierung der Donizetti-Oper aber auch deshalb, weil nun das Orchester und der Chor mit frischem Elan und erneuerter Gestaltungskraft bei der Sache sind. Wie könnte es anders sein, wenn Nello Santi am Pult steht und, 49 Jahre nach seiner ersten Zürcher «Lucia»-Premiere, seine ganze Erfahrung und sein unvermindertes Temperament einbringt, um Donizettis Musik in all ihrem sinnlichen Wohlklang, aber auch in ihrem tiefen Gefühlsgehalt, ihrem steten Changieren zwischen utopischer Hoffnung, Schmerz und Verzweiflung sprechen zu lassen.