Ein Geist macht noch keine Oper

Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (16.09.2008)

Lucia di Lammermoor, 14.09.2008, Zürich

Opernhaus Zürich
In der Neuproduktion von Donizettis «Lucia di Lammermoor» ragt keiner heraus. Nello Santi dirigiert, Damiano Michieletto inszeniert.

Lucia liebt den Grossen mit der Wespentaille, heiraten aber muss sie den kleinen Dicken. Beide sind Tenöre, die Katastrophe unausweichlich: Der Kleine wird von ihr in der Hochzeitsnacht erstochen, der Geliebte mit dem feurigen Blick bringt sich selber um. Grosse Oper! Ernst beiseite: Wer in Donizettis «Lucia di Lammermoor» zu viel Gewicht auf die Ausdeutung der Handlung legt, wirds schwer haben. Der Erfolg des Werkes hängt am Protagonistenpaar, wenn nicht sogar bloss an der Titelfigur. In Zürich darf Elena Mosuc - einst Einspringerin für Edita Gruberova, seit einigen Jahren Zürcher Hauptvertreterin der Rolle - die unheimliche Partie singen.

Sie tuts, als wärs ein Kinderspiel: Töne werden mit wundersamer Leichtigkeit produziert, die Tonleitern sind geschmeidig, ja selbst die Spitzentöne sitzen. Aber Mosuc beschränkt sich nicht auf die Virtuosität. Ihre Töne haben auch Kraft und dunkle Farben. Aber trotz den «Brava»-Rufen: Niemand wird ob dieser Interpretation ins Rasen geraten. Der 16. Dezember 1989, als Gruberova in Robert Carsens «Lucia»-Neuinszenierung für ein Zürcher Opernwunder sorgte, ist sehr weit weg.

Spannender › nicht besser › ist Vittorio Grigolo als Edgardo. Der Karriereweg des 32-jährigen Tenors zeigt steil nach oben. Seine Agentur lässt ihn zurzeit an Häusern wie Genf und Zürich ein Rollendebüt ans andere reihen, bevor dann die Metropolen locken. So, wie er sich bewegt, singt er auch › übermotiviert, mit grösster Emotion, aber eben auch unkontrolliert. In einer Operwelt, die von so vielen Tenor-Langweilern geprägt ist, macht das Eindruck, aber auch Angst. Denn Grigolos von Natur her lyrisch sanfte Stimme neigt zur grossen Geste, weil ihr der Zwischenbau fehlt. Er muss schon im ersten Duett die Piani hauchen und die kaum merklich lauteren Stellen überbetont singen, damit die Melodielinien nicht brechen. Aber immerhin: In seiner grossen Arie verbinden sich Spiel und Gesang › artikulierte Schluchzer und Tonproduktion › eindrücklich.
Der beste Sänger des Abends ist der Bass Laszlo Polgar. Mit einer Seelenruhe singt er die Partie des Pfarrers und beweist, dass vor der Feier eines musikalischen Effekts die Gestaltung einer ganzen Phrase kommt. Eher das Gegenteil dieser Kunst zeigt Massimo Cavalletti (Lord Ashton).

Nach neunzehn Jahren hat die bereits legendäre, damals zukunftsweisende Zürcher «Lucia» von Robert Carsen also ausgespielt. Der junge italienische Regisseur Damiano Michieletto zeigt eine Neuversion. Ein schräger Turm bildet den optischen Schwerpunkt. Schräg? Richtig, auch die Carsen-Inszenierung war von schrägen Wänden geprägt, nur sass man dort sozusagen im Turm, betrachtete die Seelenräume der Figuren. Nun öffnet sich dieser Blick etwas, ohne dass wir viel mehr verstehen › es ist nicht nötig. Auch diese «Lucia» nimmt ihren gewohnt tragischen Lauf.

Auffällig ist, dass Michieletto den von Lucia in der ersten Arie besungenen Geist sichtbar, ja zu einem die Szenen bestimmenden Element macht. Er beziehungsweise sie (Rachel Braunschweig) lenkt Lucias und Edgardos Wege. Das ist hübsch anzusehen, hebt die schroffe Handlung auf eine verspielt-fantastische Ebene.

Die Inszenierung dürfte selbst den einem naturalistischen Stil verbundenen Nello Santi nicht zu sehr erbost haben. Seit fünfzig Jahren dirigiert er nun in Zürich, strahlt eine grosse Autorität aus, dirigiert «Lucia» routiniert. Allerdings zielt er diesmal zu sehr auf vordergründige Effekte, zu wenig fliessen die Linien ineinander.
Aber eben: Wegen des Dirigenten haben wir noch nie eine «Lucia»-Karte gekauft. An jeden unserer zehn Zürcher Gruberova-Abende erinnern wir uns dafür zu gerne, sie waren jeden Franken wert.