Lieben und sterben beim schiefen Turm von Ravenshood

Susanne Kübler , Tages-Anzeiger (16.09.2008)

Lucia di Lammermoor, 14.09.2008, Zürich

In Gaetano Donizettis «Lucia di Lammermoor» am Zürcher Opernhaus treffen sich Alt- und Jungmeister. Mit durchzogenem Resultat.

Die Welt ist aus den Fugen geraten in Ravenshood. Schief steht der Turm da, seine Pfeiler sind geborsten, die Scheiben zersplittert. Allerdings hat die Zerstörung, das zeigt sich schon bald einmal, Methode: Die abgebrochenen Metallstreben befinden sich stets dort, wo sich jemand theatralisch aufstützen will, das zerbrochene Glas erlaubt raffinierte Lichteffekte, und es gibt keine einzige Querverstrebung, die Lucia in ihrem Wahnsinn nicht zum Drüberlehnen brauchen könnte. Es dauert nicht lange, bis man darauf wetten würde, dass auch der hinten herausragende Balken irgendwann noch seine Funktion bekommen wird, und bingo: Der Todessprung der Lucia (bzw. ihres Stunt-Doubles) findet von dort aus statt.

Der Turm prägt die ganze Aufführung, optisch und als Zeichen für die Haltung der Regie. Der erst 28-jährige Italiener Damiano Michieletto und sein Bühnenbildner Paolo Fantin zeigen bei ihrem Zürcher Debüt eine sorgfältige, durchdachte, dabei aber auch etwas demonstrativ symbolhaltige und sehr dekorative «Lucia di Lammermoor». Die Liebe von Lucia und Edgardo, die ebenso masslos ist wie die Bosheit von Lucias Bruder Enrico, wird in klare, oft statische, für die Details der Handlung überaus zweckmässige Bilder gefasst. Auch jenes Gespenst einer einst aus Eifersucht erstochenen Frau, das Lucia bei ihrem ersten Auftritt beschwört, tritt darin auf - als elegante weisse Gestalt (Rachel Braunschweig), die Rosen bringt und zerpflückt, die ein Messer trägt und den Lebenden klar macht, dass sie keine Chance haben.

Diskreter Wahnsinn

Sie haben sie tatsächlich nicht, weder in der Geschichte noch auf dieser Bühne, die sich im Laufe des Abends als zunehmend problematisch erweist. Dass etwa das Treppensteigen in diesem schiefen Gebäude nicht ganz einfach ist, passt zwar zu den Figuren, die es ja auch sonst schwer haben. Aber es verhindert jede freie Bewegung, jeden nicht abgezirkelten Schritt. So werden die Protagonisten nicht zum Leben erweckt in dieser Aufführung, sondern zu Symbolträgern ihrer eigenen Geschichte gemacht.

Am deutlichsten zeigt sich das, wenn es um die Liebe geht. Für sie lebt, leidet und stirbt die Lucia - und Elena Mosuc beeindruckt in einer ihrer Paraderollen auch bei dieser Premiere wieder. Ungemein genau und rein führt sie ihre Stimme, die mühelosen Spitzentöne klingen nie nach Triumphgeheul, und ihr reiches Ausdrucksspektrum erlaubt es ihr, die schauspielerischen Aktionen sehr diskret zu halten (man mag es ihr gönnen, dass sie nicht wie üblich in einem blutbefleckten Nachthemd wahnsinnig werden muss).

Ihr gegenüber steht der 31-jährige Vittorio Grigolo bei seinem Rollendebüt als Edgardo - eine Entdeckung, zumindest vokal. Sein Tenor ist so kräftig und zuweilen metallisch, dass er zweifellos keine Mühe haben wird, wenn er am 30. September als Alfredo in der «Traviata» am Zürcher Hauptbahnhof die Züge übertönen muss. Aber er weiss ihn auch zurückzunehmen und ganz nach Belieben zu modellieren. Dabei geht er stets vom Text aus, den er nicht nur atmosphärisch umsetzt, sondern auch sehr klar artikuliert. Grigolos Auftritt wäre umwerfend, wenn er sich seine darstellerische Hektik noch ein wenig abgewöhnen könnte: All die flackernden Blicke und die oft ziemlich manierierten Gesten der Verzweiflung bringen seinen Edgardo näher als nötig ans Klischee - und entfernen ihn damit von Lucia.

Getrennte Ovationen

Der Funken zwischen den beiden so unterschiedlichen Darstellern springt (noch) nicht recht an dieser Premiere; dafür springt er ins Publikum, bei dem die beiden ihren Applaus konsequenterweise zunächst einmal einzeln abholen (sie nach der Wahnsinnsszene, er am Schluss vor den üblichen Vorhängen).

Auch die anderen Akteure treten kaum in Beziehung zueinander. Massimo Cavalletti als intriganter Bruder Enrico überträgt das Grobianische seiner Figur etwas allzu sehr auch auf seinen Gesang. Boiko Zvetanov betont als Zweck-Bräutigam mit steifem Rücken und ungerührter Stimme, wie wenig ihn diese Lucia abseits der Machtspiele interessiert. Und der von Jürg Hämmerli vorbereitete Chor bleibt klanglich wandlungsfähige, in kostbare Gewänder (Carla Teti) gekleidete Kulisse.

Einzig László Polgár als Priester tritt mit eindringlichem Bass und Blick in mitfühlenden Kontakt zu den übrigen Figuren. Aber am Ende, wenn Edgardo anders als im Libretto mit seinem Selbstmord bis nach der Arie wartet, steht auch er nur noch da. Die musikalische Logik, für die sich der Regisseur hier entschieden hat, verhindert die erzählerische, nach der dieser Priester für einmal durchaus genug Zeit gehabt hätte, Edgardo die Pistole noch wegzunehmen.

Knalleffekte im Graben

Der Vorhang fällt vor dem Schuss, der zweifellos folgen wird: Es ist der letzte, aber nicht der erste Knalleffekt, den Michieletto dankenswerterweise auslässt. Nello Santi im Orchestergraben verfolgt da eine etwas andere Taktik. Kürzlich konnte er sein 50-jähriges Jubiläum am Zürcher Opernhaus feiern, die «Lucia» gehörte schon damals zu seinem Stammrepertoire, und er lässt sich all die emotionalen Eruptionen in Donizettis Partitur nicht nehmen. Wie er die Klänge strömen lässt, wie er die Tempi zurücknimmt und dann wieder anzieht, wie er Tänzerisches in Bedrohliches umkippen lässt und umgekehrt - darin zeigt sich die Kunst des Altmeisters, und die Musikerinnen und Musiker des Orchesters der Oper wissen sie mit virtuoser Selbstverständlichkeit umzusetzen.

Manchmal überschwemmt das Orchester in seinem Schwung die Sängerinnen und Sänger. Häufiger aber (und durchaus nicht nur im wahnsinnigen Flöten-Lucia-Duett) agiert es in innigem Dialog mit der Bühne. Es ist auch musikalisch eine sehr italienische Aufführung, die die Partitur entgegen einer heute verbreiteten Tendenz nicht seziert, sondern dem Werk auf eine in gutem Sinn traditionelle Weise gibt, was es braucht: vollen Klang, intensive Gefühle, viele Gelegenheiten fürs vokale Glänzen. Musikalisch ist diese Donizetti-Welt durchaus noch in Ordnung.