Die Frau als Spielball der Männer

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (16.09.2008)

Lucia di Lammermoor, 14.09.2008, Zürich

Vor 50 Jahren dirigierte Nello Santi in Zürich seine erste «Lucia». Unbeirrt huldigt er einer ebenso altbewährten Aufführungstradition - leider auch mit mehreren Strichen in der Partitur.

Gaetano Donizettis «Lucia di Lammermoor» ist ein Primadonnen-Vehikel par excellence, und die Wahnsinnsszene im dritten Akt der Oper geniesst geradezu Kultstatus. Zugleich ist «Lucia» Inbegriff der italienischen Opern-Romantik. Die Handlung - nach Walter Scotts 1819 veröffentlichtem Roman «The Bride of Lammermoor» - wurde von Donizettis Librettisten Salvatore Cammarano ganz nach dem Geschmack der damaligen Zeit um ein Jahrhundert vorverlegt, nämlich in ein sehr durch die romantische Brille gesehenes Schottland des 17. Jahrhunderts.

Die Handlung spielt abwechselnd auf zwei Schlössern und greift einen archetypisch romantischen Stoff auf. Erzählt wird das Schicksal von Lucia, die durch das politisch motivierte Kalkül ihres Bruders von ihrem Geliebten getrennt und zur Heirat mit einem Ungeliebten gezwungen wird. Lucia akzeptiert das einerseits schicksalsergeben, revoltiert dann aber auf ihre eigene Art, indem sie den Ehemann noch in der Hochzeitsnacht (und bevor diese vollzogen ist) ersticht und sich dann in den Wahnsinn flüchtet und geistesumnachtet stirbt.

Schieflage

Dass das vehement mit der Rolle der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft zusammenhängt, liegt auf der Hand. Denn die Frau darf hier überhaupt keine Rolle spielen, sondern hat sich dem Spiel (respektive dem Krieg) um die Macht zwischen den Männern zu fügen. Wer nicht spurt, dem bleibt nur die Flucht - in den Wahnsinn und in den Tod. Von solchen rigorosen Voraussetzungen geht der Regisseur Damiano Michieletto aus. Im Bühnenbild von Paolo Fantin, das zur Hauptsache aus einem Schloss- oder Wachtturm in arger Schieflage besteht, inszeniert er von allem Anfang an dieses todbringende Spiel um die Macht der Männer. Einige liegen bereits tot am Boden, künden von einer soeben verlorenen Fehde; andern Feinden ist man, zum Teil mit Schäferhund, auf der Spur.

Keine Spur von Romantik. Der Turm ist gleichsam Symbol eines zerstörten Gleichgewichts; er lässt sich, mit Glasscheiben umwandet und Einblicke ins Innere bietend, auf drei Etagen und vielen Treppen bespielen. Zur Hauptsache aber findet das Geschehen neben dem Turm statt, auf einer Bühne, wo wenige Requisiten für konkrete Örtlichkeiten und Situationen stehen: ein Wassereimel für einen plätschernden Schlossgarten-Brunnen, eine einzelne Rose fürs Aufblühen von Hoffnung und Liebe, Salontische mit Apéro-Schampus zum Empfang der Hochzeitsgäste.

«Fantasma»

Zudem geistert durch jede Szene eine weisse Dame - nämlich jenes Gespenst, das Lucia in ihrer ersten Arie als «ombra» benennt und in ihrer Wahnsinnsarie als «fantasma». Allerdings, derart visualisierte, also vergegenständlichte Gespenster sind keine Gespenster mehr, und so geht dieser weissen Dame ihre intendierte Funktion als Schlüsselfigur weitgehend ab. Überhaupt zeigt Damiano Michielettos Regie wenig Kontur in der Personenführung. Warum beispielsweise Damen der besseren Gesellschaft, von Carla Teti in teure Abendroben gekleidet, sich plötzlich wie Teenager bei ihren ersten pubertierenden Partys auf dem Boden fläzen, um Lucias Wahnsinnsarie zuzuhören, das bleibt sein Geheimnis. Und dass sich Lucia am Schluss dieser Arie, von einem Stunt gedoubelt, von der obersten Etage des Turms in die Tiefe und in den Tod stürzt, nun ja, das schien eher Verlegenheit, ja Heiterkeit auszulösen statt Betroffenheit.

Sängerisch steht diese Neuinszenierung auf beachtlichem Niveau. Vor allem das Rollendebüt von Vittorio Grigolo als Edgardo brachte Leben auf die Bühne. Ein Tenor, der wie ein südländischer Gott aussieht und sich mit feuriger, bedingungsloser Identifikation in seiner Partie bewegt, als hätte er die schon fünf Jahre drauf. Zudem ist er mit einer hellen, strahlkräftigen Stimme gesegnet, die neben intensiven dramatischen Tönen auch über ein weiches Piano verfügt, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er davon immer wieder Gebrauch machte.
Massimo Cavalletti trumpfte als Enrico in seiner Auftrittsarie mit sattem, vollmundig klingendem Bariton auf - stimmlich in jedem Zoll eine rollendeckend imponierende Gestalt, darstellerisch dagegen etwas eindimensional. Ein Kabinettstück an schauspielerischer Blasiertheit lieferte Boiko Zvetanov als Arturo, wobei er, wo nötig, auch stimmlich zeigte, wer hier das Sagen hat. László Polgár stellte einmal mehr einen würdevollen geistlichen Erzieher dar, der mit weicher Bassstimme möglichst für Frieden sorgen möchte.

Tradition

Elena Mosuc singt Lucia seit Jahren erfolgreich nicht nur am Zürcher Opernhaus. Sie hat die Partie bewundernswert drauf, vielleicht sogar eine Spur zu routiniert. Ob es daran lag, dass ihr Gesang nicht immer berührte? Oder am nervösen Vibrieren ihrer Stimme, die oft so klang, als wäre Lucia von allem Anfang an schon «wahnsinnig» erregt. Zudem rutschten ihr die wirklich stratosphärisch hohen Töne - über dem dreigestrichenen C - hörbar nach hinten und verloren an Kraft und Glanz.

Bereits in seiner ersten Zürcher Saison - also vor fünfzig Jahren - dirigierte Nello Santi «Lucia». Er ist seiner Auffassung von Tradition treu geblieben und dirigiert das Stück auch heute so, wie es vor fünfzig Jahren gang und gäbe war, und das heisst: mit zahlreichen Strichen. Im Duett Enrico/Lucia wird über mehrere Passagen hinweggehüpft, in Lucias erster Arie ebenfalls; und in Enricos Cabaletta fällt die Wiederholung gänzlich zum Opfer. Und so weiter. Das ist umso schmerzlicher, als in der letzten Zürcher «Lucia»-Inszenierung auf solche «traditionellen» Eingriffe in die Partitur weitgehend verzichtet wurde. Sonst aber - auch das ist zu sagen - dirigierte Nello Santi mit einem Ernst und einer aus Erfahrung vertieften Einsicht in diese Musik, wie man das anderswo wohl kaum hört. Das ist ein künstlerisches Ereignis der ganz besonderen Art und wurde entsprechend mit Ovationen bedacht.