Die Oper im gläsernen Turm

Herbert Büttiker, Der Landbote (16.09.2008)

Lucia di Lammermoor, 14.09.2008, Zürich

Keine Ruhe für Donizettis Meisterwerk «Lucia di Lammermoor». Aber eine farbige Neuinszenierung löst die strenge Vorgängerin ab und das Rollendebüt eines jungen Tenors macht Furore.

Eine sehr lange Zürcher «Lucia»-Erfahrung hat Nello Santi. Er hat das Werk am Opernhaus erstmals 1959 dirigiert und feiert mit der Neuinszenierung jetzt das Jubiläum seiner fünfzigjährigen Tätigkeit als Maestro im Graben der Zürcher Oper. So war diese Premiere nicht unbedingt auf Novität und Überraschung fokussiert, umso weniger als die Protagonistin mit Elena Mosuc besetzt war, der bewährten Lucia des Zürcher Ensembles. Als routinierter Sänger wirkte auch Massimo Cavalletti, der mit höhenstarkem, aber oft auch knapp intoniertem Bariton als Enrico auftrumpfte. Stake Impulse erhielt die Aufführung aber vom Tenor Vittorio Grigolo, der hier sein Rollendebüt als Edgardo gab.

«Vittorio»

Einfach «Vittorio» heisst Grigolos Debütalbum. Der junge Star auch am Crossover-Himmel wird zwar gern mit Andrea Boccelli verglichen und tatsächlich besitzt er allen Schmelz einer samtenen Belcanto-Stimme, aber zu erleben war ein Tenor, der den Edgardo, den glücklosen und verzweifelten Aussenseiter-Helden par excellence, mit allen Fasern seines Gesangs in die Extreme führte, stark in den dramatischen Momenten, mit rückhaltloser Emphase in den Kantilenen und der kompakten Verschmelzung von Deklamation und musikalischer Phrasierung. Auch als Darsteller stürzte sich Grigolo heftig in die Partie, zeigte den Melancholiker als stolzen, aufbrausenden Charakter − freilich in oft etwas äusserlich-penetranter und hektischer Manier. Aber er fügte sich damit in eine Inszenierung, die den grossen Spagat zwischen hoher Poesie und krudem Naturalismus wagt.

Nach der strengen «Lucia» von Robert Carsen, die das Opernhaus fast zwanzig Jahre und noch letzte Saison im Repertoire hatte, zeigt sich jetzt das Team Damiano Michieletto (Inszenierung), Paolo Fantini (Bühnenbild) und Carla Teti (Kostüme) nämlich recht unzimperlich in der Wahl der Mittel. Da fliegen mal die Fetzen und Tische werden umgeworfen, ins Spiel kommen aber auch die Bilder der hohen Poesie: Die rote Rose wird gleich mehrfach zerblättert, weiss ist der Sarg der toten Lucia und weiss ist die Frau, die in dieser Inszenierung Lucias Wahnvorstellung für alle sichtbar macht. Ein schräg aufragender, beschädigter Turm aus Streben und zerborstenem Glas dominiert die Bühne. Eine Treppe führt über mehrere Stockwerke hinauf, ein Lichtbalken ebenso: Der Turm ist Aktionsraum und expressives Lichtobjekt zugleich.

Das ist, wie die Inszenierung insgesamt, in dieser Vielschichtigkeit teils faszinierend, teils designerhaft geschmäcklerisch und dramaturgisch da und dort auch problematisch. So in der grossen Szene der Lucia, die den wenig wirksamen Auftritt der Wahnsinnigen im Turm am Ende mit einem spektakulären Sturz in die Tiefe zu kompensieren sucht. Ein Stuntman im Lucia-Nachthemd kommt dafür zum Einsatz. Gefragt ist aber Stimmpräsenz. Elena Mosuc, die im ersten Akt stimmlich noch flackrig wirkte, gestaltete die Wahnsinnsszene durchaus souverän bis in alle Höhen, aber wirklich unter die Haut gingen dieser Auftritt und dieser Abgang nicht.

Noch deutlicher an der Musik vorbei zielt die Regie mit Edgardos Selbstmord, den Donizetti ja nun doch eindeutig komponiert hat mit Septakkord, Fermate und einsetzendem Cello vor der letzten Strophe. Wenn Edgardo hier im Mantel nach der Pistole sucht, um von ihr erst mit dem Schlussakkord Gebrauch zu machen, ist die Sphäre der Komik gestreift, und um ihr zu entrinnen, braucht es die ganze Intensität des Sängers, die Grigolo zum Glück aufbringt.

Feier für Nello Santi

Intensität ging hier wie an vielen entscheidenden Stellen auch von Nello Santis Dirigat aus. Bis zum Auftritt des Tenors schien die Aufführung zwar nicht recht in Fahrt zu kommen, Santis Dirigat liess zuweilen den Zug vermissen und einige Tempovorgaben führten auch zu Unstimmigkeiten zwischen Graben und Bühne, aber die Finalszene im zweiten Akt mit ihrer harten Konfrontation der Gegner erhielt ihre Brisanz gerade auch, weil sie packend dirigiert war.

Der instrumentale Reichtum der Partitur, in der Flöte und Harfe ihre eminente Rolle spielen, war beim Orchester des Opernhauses in besten Händen, und der Chor klang selbst in ungünstiger Aufstellung genau und prägnant. Laszlo Polgar mit trockenem Bass als zwielichtiger Kirchenmann Raimondo, Boiko Zvetanov als gespreizt-arroganter Politmensch Arturo, Boguslaw Biszinski als Normanno und Katharina Peetz als Alisa wirkten zuverlässig mit in diesem Stück, das ja nicht zuletzt mit dem berühmten, hier prächtig musizierten Sextett auch eine Ensemble-Oper ist. Ein spendables Publikum feierte am Ende Nello Santi und seine Crew.