Die Welt in Schieflage

Torbjörn Bergflödt, Südkurier (16.09.2008)

Lucia di Lammermoor, 14.09.2008, Zürich

Manchmal will der Kanon wieder befragt sein. Dann möchte man gerne wissen, was einem dieses und jenes Werk unter neuen Interpretationsblickwinkeln sagt. 1989 hatten der Regisseur Robert Carsen und der Ausstatter Richard Hudson am Opernhaus Zürich der Aufführungsgeschichte der Oper "Lucia di Lammermoor" einen Vitaminstoß verpasst. Herbe geometrisch-abstrakte Räume und Utensilien, die allgegenwärtige Farbe Grau und die paramilitärischen Kostüme hatten szenisch kühn auf eine Welt gedeutet, in der nackte Gewalt herrscht und Menschen instrumentalisiert werden. Nach beinahe 20 Jahren stellt nun das Opernhaus, das sich in dieser Spielzeit überhaupt mit mehreren kanonischen Stücken beschäftigt, die "Lucia" wieder zur Diskussion.

Damiano Michieletto (Inszenierung), Paolo Fantin (Bühnenbild) und Carla Teti (Kostüme) setzen die Oper unter emotionalen Hochdruck. Das passt bei dem nach einer Romanvorlage von Walter Scott gebauten Dreiakter, in dem Lucia vom realpolitisch gesteuerten Clan um ihren Bruder Enrico zu einer Heirat gezwungen wird, die sie, die Enricos Erzfeind Edgardo liebt und diesem einen Treueschwur geleistet hat, in den Wahnsinn treibt. Das junge italienische Regieteam lässt die Leidenschaften so mächtig brodeln, dass die Gefühle von Liebe und Hass sich auch körpersprachlich heftig mitteilen können, und rückt das Geschehen ausstatterisch an unsere Gegenwart heran. Und natürlich wird der "colpo di scena", dass Edgardo plötzlich in die Zwangsheiratszeremonie platzt, nicht verschenkt.

Gebändigt, kanalisiert, gebündelt wird solches durch ein zeichenhaftes Verweissystem vom Vorspiel bis zum Schluss. Das Einheitsbühnenbild zeigt einen verwüsteten Raum, der von einem schiefen und mehrfach versehrten Turm aus Metall und Glas dominiert wird. Erinnerungen an den 11. September 2001 drängen sich auf.

Als eine Art von seelischer Begleitfigur von Lucia erscheint immer wieder eine weiß gekleidete Frau auf der Szene - als Visualisierung von jenem Trugbild, jenem "fantasma", das Lucia in der berühmten Wahnsinnsszene erblickt. Leitmotivisch genutzt wird ferner eine (gleichfalls im Libretto genannte) Rose. Dass der Regisseur "fantasma" und Rose mit dem vor Lucias Sarg zum Selbstmord sich rüstenden Edgardo zusammenführt, weist die Hauptfiguren als wesensverwandt aus und lässt uns die tröstende Aussicht, die beiden möchten sich im Jenseits wiederfinden. Manchmal schaltet die Lichtregie etwas gar tautologisch auf Blutrot oder man wünschte sich eine andere Sicht als die auf den Schiefturm. Im Ganzen aber eine achtbare Regieleistung, die die Wirkungsmacht von Donizettis Musik nie beschneidet.

Die Sänger und die Instrumentalisten unter der Leitung von Maestro Nello Santi - der Anfang Monat sein fünfzigstes Zürcher Bühnenjubiläum feiern durfte - wissen diesen Freiraum wunderbar zu nutzen. Nun ist ja zwar gerade den Zürchern Edita Gruberova im Belcanto-Fach in unvergesslicher Erinnerung. (Die Virtuosin meidet seit Jahren das Opernhaus, weil sie diesem in einer bestimmten Angelegenheit gram ist.) Wie nun aber die mit der Rolle der Lucia eng vertraute Elena Mosuc den passagenweise mörderisch schwierigen Titelpart an der Premiere meisterte, verdient weit mehr als nur ein schulterklopfend gönnerhaftes Lob. Da war eine in allen Lagen gut ansprechende, bewundernswert höhensichere und koloraturenagile Stimme zu vernehmen und die Kunst fein nuancierter Piani und Sotto-voce-Klänge.

Als wahres Temperamentsbündel mit einer sehr timbreschönen Stimme empfahl sich erstmals am Hause der Tenor Vittorio Grigolo, dessen sängerisches und schauspielerisches Herz-Schmerz-Ausdrucksvokabular in der Rolle des Edgardo dergestalt über die Rampe kam, dass es bald unser Herz rührte, bald knapp an der unfreiwilligen Komik vorbeischrammte. Der klangvolle Bariton von Massimo Cavalletti erwies sich als Idealfall für den Enrico. Laszlo Polgar lieh sein singschauspielerisches Potenzial der hintergründigen Rolle des Hofkaplans, eines Vertrauten von Lucia. Den Chor hat Jürg Hämmerli sauber einstudiert. Unter Santis nach wie vor spannkräftigem, die Phrasen atmend gestaltendem Dirigat machten die Instrumentalisten hörbar, dass Donizettis hier sehr differenzierte Musiktheatersprache auch in den Orchestergraben hineinreichte.