Quartier Latin mit Toblerone-Bergblick

Alexander Dick, Badische Zeitung (29.09.2008)

La Bohème, 26.09.2008, Basel

"La Bohème" ist eine Eiswüste: David Hermann inszeniert, Maurizio Barbacini dirigiert Puccinis Oper in Basel

Stellen wir sie uns zumindest einmal kurzzeitig vor, die typische armselige Pariser Mansardenwohnung, die Straßenkreuzung im Quartier Latin, den Schlagbaum von Enfer. Wir werden nämlich nichts wiederentdecken von all diesem irgendwie ans Herz gewachsenen naturalistischen Bühnen-Zuckerbäckerstil, wie man ihn aus berühmten "La Bohème" -Fassungen von Regisseuren wie Franco Zeffirelli oder Gian Carlo Menotti kennt. Die "Bohème" , mit der das Theater Basel nun auch im Großen Haus seine neue Saison eröffnet, ist ganz anders, und wenn sich überhaupt etwas über die Orte sagen lässt, an denen sie spielt, dann zunächst, dass sie ganz fern sind von jenem Opern-Paris der Herren Puccini sowie Illica und Giacosa (Libretto). Aber sind sie auch wirklich so fern vom Stück?

David Hermann, der in Basel schon mit Honeggers "Jeanne d’Arc" reüssierte, ist kein bequemer Regisseur. Was indes nicht heißt, dass er nur auf Selbstprofilierung aus ist. Hermann hört in das Stück hinein und kommt dabei offenbar zur Überzeugung, dass Giacomo Puccini eine üppige, plastische Musik von hohem Assoziationsreichtum geschaffen hat, der allzu überfrachtete Bilder womöglich im Wege stehen. Also räumen Hermann und sein Bühnen- und Kostümbildner Christof Hetzer die Bühne leer, ohne dass das mit böswilliger Inszenierungsverweigerung gleichzusetzen wäre.

Die Räume dieser "Bohème" sind Metaphern für die Seelenlage der Akteure: Die sprichwörtliche Kälte, unter der Rodolfo und Mimi leiden müssen, findet ihre Entsprechung in dem schneeweißen, nur mit ein paar Bettdecken bedeckten Raum des ersten Bilds. Und richtig, erzählt nicht Mimi selbst davon, allein zu leben in einem weißen Zimmer? Che gelida manina! — wie eiskalt dies Händchen ist, wissen wir ohnedies aus der wohl berühmtesten "Bohème" -Arie, und so frösteln wir nicht nur bei diesem Bild, sondern auch den drei weiteren. Erleben, wie das Straßencafé zur Hotel-Terrasse mit Toblerone-Bergpanorama wird mit sich sonnenden Skihaserln, was sich ungefähr so zusammenreimen lässt: Rodolfo und seine Künstlerfreunde sind eine Art fossiles Bergsteiger-Team, sie passen in ihrem 20er-Jahre-Outfit nicht in diese Welt der Hightech-Skianzüge.

Es ist auch richtig — es steckt nicht nur Sentiment in Puccinis Musik, sondern auch viel Skurriles. In Basel findet das seine szenische Entsprechung in vielen Verfremdungen: Der Zöllner im dritten Bild ist ein schwarzer Django, die Kinderchor-Stimmen hören wir scheinbar aus dem Mund der Erwachsenen, und das berühmte Tänzchen der vier Künstler im letzten Bild ist ein Meisterstück in Sachen Minimalismus der Bewegungen. Freilich, Puccinis "Bohème" ist weit davon entfernt, episches Theater zu sein, und so ist man hin- und hergerissen, ob man das gut finden soll. Wenn am Ende die tote Mimi, fast wie im Gruselfilm, aus ihren sterblichen Überresten heraussteigt (szenisch toll gemacht) und auf ein — ihr — Sarg mausoleum zugeht, ist das wie ein szenischer Epitaph zur ganzen Inszenierung.

Nur, was diese will, erschließt sich nicht wirklich. Die Basler "Szenen aus dem Leben der Bohème" suchen ebenso nach Tiefe wie nach der Ironie des gleichnamigen Vorlagenromans von Henri Murger zur Oper. "Man kann doch nicht immer nur lachen" , lässt dieser dort nach der Todesszene einen imaginären Leser zu Wort kommen. Lachen oder weinen? Bei Hermann ist man irgendwann am Ende mit seinem Emotions-Latein.

Denn wirklich glaubwürdig ist doch nur Puccinis Musik. Auch wenn man schon sorgfältigere Interpretationen gehört hat als die zum Teil handwerklich unsaubere von Maestro Maurizio Barbacini und dem Sinfonieorchester Basel am Premierenabend, zumal bei den Ensembleszenen. Das Sentiment und die üppige Melodik enthalten diese dem Hörer nicht vor, und dank der kraftvollen Stimmen von Solisten und dem exzellent gestaffelten Chor und Kinderchor (Henryk Polus) kann das Orchester die Partitur ganz intensiv und eruptiv ausdeuten.

Zum vokalen Ereignis aber wird vor allem der Rodolfo von David Lomelí. Der mexikanische Tenor, der ein bisschen aussieht wie ein Knuddelbär, verfügt über ein nahezu unerschöpfliches Repertoire an Reserven, auch wenn seine helle, unverbrauchte, von jeglichem Flackern freie Stimme ein bisschen mehr Poesie vertrüge. In jedem Fall steht da eine Weltkarriere bevor. Ebenso hinreißend ist der Marcello von Philip Addis, ein klangsatter Bariton, sorgsam um dynamische Kontrolle bedacht. Maya Boogs Mimi ist nicht nur darstellerisch ein Ereignis: Es ist viel Verismo — Naturalismus — in diesem zarten, zerbrechlichen Sopran. Agata Wilewska schließlich setzt die Koketterie der Musetta adäquat um, auch wenn dieser Stimme etwas weniger soubrettiges Da hinschmelzen der Töne nicht schaden könnte. Vielleicht wollte sie damit wenigstens einen Hauch von Quartier Latin erhalten …