Sterbende Träume

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (29.09.2008)

La Bohème, 26.09.2008, Basel

Giacomo Puccinis «Bohème» im Theater Basel

Ein spiegelglatter weisser Boden, darüber ausgebreitet Steppdecken, Männer in Bergsteigerkluft, hinter ihnen ein weisser Vorhang, links eine schwarze Wand – nichts erinnert auf der Bühne des Basler Theaters an das uns liebgewordene Atelier der vier Bohémiens in der Pariser Mansarde. Und doch haben David Hermann (Regie) und Christof Hetzer (Bühnenbild und Kostüme) Henri Murgers «Scènes de la vie de Bohème», die Vorlage für Giacomo Puccinis «Bohème», sehr genau gelesen. Da heisst es zum Beispiel über das Zimmer des Poeten (wir zitieren aus dem Programmheft): «Man befand sich also im Monat Januar, und das Thermometer, das am Quai des Lunettes 12 Grad unter Null zeigte, würde weit tiefer gesunken sein, wenn man es in Rudolfs Zimmer gehängt hätte, das dieser Sankt Bernhard, Spitzbergen oder Sibirien getauft hatte.»

Wie für den Dichter sind «Sankt Bernhard, Spitzbergen oder Sibirien» für Hermann und Hetzer Metaphern. Was die beiden in ihrer Bildsprache erzählen, ist eine Expedition in extreme Gefühlswelten: eine leidenschaftliche junge Liebe im Zeichen der Krankheit und des Todes. Hermann versteht es, Symbolik und Realismus in einem Schwebezustand zu halten, und er arbeitet dabei nicht nur mit mancherlei Irritationen – der Schlafanzug, den Rodolfo zu Wollmütze und Hochgebirgsbrille trägt, Mimìs duftiges Kleidchen, die Gestalten, die aus dem Boden auftauchen und von diesem verschluckt werden –, im Umgang mit den Chorsängern, die sich in grellbunten Skianzügen auf weissen Liegen räkeln, beweist er auch Sinn für Komik.

Über den fein gestalteten Details des Spiels mit Figuren und Requisiten aber spannt sich ein grosser Bogen: der Wechsel von Weiss zu Schwarz. Von den Idealen und Träumen des Dichters und des Malers bleiben am Schluss nur zwei weisse Tücher – interpretierbar als leeres Blatt, als leere Leinwand –, sonst ist es dunkle Nacht geworden, Mimì stirbt allein, die Tote, die Rodolfo schliesslich umarmt, ist ein Double, sie selbst schreitet auf eine helle Zelle zu, in den Reliquienschrein der Erinnerung.

Das ist packendes, innovatives, zum Mitfühlen und Mitdenken anregendes Theater, aber zugleich ist es ein Sängerfest. Denn in David Lomelí (Rodolfo) hat das Theater Basel einen Tenor entdeckt, bei dem man für einmal den Vergleich mit dem jungen Pavarotti wagen darf, eine Stimme von hinreissendem Schmelz und Höhenglanz in einem fülligen Körper, der die naive Scheu des jungen Dichters unglaublich echt erscheinen lässt. Und Phillip Addis steht als Marcello mit seinem kernigen, resonanzreichen Bariton dem Künstlerkollegen an stimmlicher Qualität kaum nach. Dazu Maya Boog als zarte, doch ganz unsentimentale Mimì – ihr manchmal etwas verschleiertes Timbre passt wunderbar zu dieser Figur und schmälert die Strahlkraft ihrer Höhe keineswegs –, Agata Wilewska als temperamentvolle Musetta, Andrew Murphy (Schaunard) und Nicholas Söderlund (Colline) als weitere Künstler-Originale: Sie alle tragen dazu bei, dass hier der seltene Fall einer Synthese von Regietheater und Sängeroper eintritt. In bester Form zeigt sich auch das Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung von Maurizio Barbacini eine delikate Farbpalette präsentiert und die Stimmungshaftigkeit von Puccinis Musik in lichtdurchflutetem, impressionistischem Klang einfängt.