Vom blendenden Schnee in die dunkelste Nacht

Tobias Gerosa, Sonntag (28.09.2008)

La Bohème, 26.09.2008, Basel

Am Theater Basel erweist sich Puccinis «La Bohème» als Opernproduktion aus einem Guss: Gut gespielt, sehr gut gesungen und brillant inszeniert

Blendend weiss ist die Wohnung im ersten Bild: weiss wie eine polare Eiswüste, mit Bettdecken als Eisbergen und mindestens so kalt. Die vier Künstler, die hier hausen, tragen Skimützen und Schneebrillen, der Vermieter wird tiefgefroren aus einem Schneehaufen gezogen, der Philosoph Schaunard (wann je hatte die undankbare Rolle so viel sängerisches wie darstellerisches Profil wie jetzt bei Andrew Murphy?) fällt gar buchstäblich vom Himmel.

Giacomo Puccinis Oper von 1896 gilt gemeinhin als veris-tisch. Darum kümmert sich die Basler Inszenierung nicht und bringt so hinter dem Hit mit den Wunschkonzertnummern eine Oper zum Vorschein, die wieder berührt. Dabei karikiert sie die Künstler in ihren Pyjamas und lässt sie im vierten Bild herrlich komisch spielen und leiden – ein Glanzauftritt des Ensembles. Aber eigentlich steht ganz die Frau im Zentrum.

Wie von einem andern Stern erscheint sie in ihrem Sommerkleidchen auf der Bühne. Bevor er sich in seiner Arie selber als Künstler stilisiert, weiss Rodolfo sichtlich nicht, was er mit ihr anfangen soll. Der mexikanische Tenor David Lomelí singt mit gut sitzendem, strahlend hellem und modellierendem Tenor – eine Entdeckung.

Eindrücklich, wie genau Regisseur Hermann diese Unbeholfenheit und ihre Entwicklung aus Text und Musik zu schälen versteht. Und diese Qualität, die schon seine Inszenierung von Honeggers «Jeanne d’Arc» letztes Jahr auszeichnete, zeigt sich im grossen Bogen und vielen Details dieser so klugen wie witzigen und berührenden «Bohème».

Der braungebrannte, in grellbunte Moonboots und Daunenjacken gehüllte Chor, der das Café Momus in eine sehr mondäne Skihütte verlegt, ist nicht das zwingende Beispiel dafür, aber er zeigt den Kontrast der Welten und ist komödiantisch äusserst wirksam.

Erst im dritten Bild fällt auf, wie das Weiss des Anfangs schrittweise dunkler wird. Mimì, die hier wie durch ein dystopisches Märchenland stolpert, singt ihre Szene jetzt schon ganz im Dunkeln.

Im vierten Akt ist sie allein auf der finsteren Bühne sichtbar. Auch dieses Bild findet seine musikalische Entsprechung, wie das brillant umgesetzte Doppelduett beim Zollhaus von Mimì/Rodolfo und Agata Wilewskas Musetta/Philipp Addies kernig schönem Marcello.

Während sich bei Maya Boog am Anfang das Fehlen der grossen Sopranaufschwünge noch als Mangel bemerkbar macht, nimmt sie ihre Mimì immer mehr zurück in ein ausdrucksstarkes, berührendes Piano: Hier verdämmert eine Frau in einer Welt, die sie nicht versteht. Das überraschende, vielleicht etwas zu massiv geratene Schlussbild lässt daran keinen Zweifel.

Wirklich gelungene Oper entsteht nur, wenn Szene und Musik eine Einheit ergeben, indem sie sich gegenseitig kommentieren. Dass das gelingt, liegt in Basel auch am Dirigenten Maurizio Barbacini und dem sehr gut disponierten, sensibel mitgehenden Basler Sinfonieorchester, die in keinem Moment Kitschverdacht aufkommen lassen, sondern die Partitur in ihrer Süsse und Schärfe interpretieren.