N.N., Tages-Anzeiger (29.09.2008)
Wie soll man Puccinis «La Bohème» heute inszenieren? Kuschelig-romantisch? Wie abgedroschen! Aber statt dessen: Ironisierend? Avantgardistisch? Opernopulent? In David Hermanns Basler Inszenierung steckte eine wahre Fülle von Ideen und neuen Aspekten. Das Meiste ist konsequent durchdacht, manches entspringt der unmittelbaren Freude am Theatralischen, und nur über das Ausmass der Bildhaftigkeit dann und wann liesse sich diskutieren.
Biedermeiersche Realität soll da gar nicht erst aufkommen. Vor einer hochalpinen Fantasiekulisse nämlich (Bühne und Kostüme: Christof Hetzer), mit gleissendem Licht beginnt der Abend. Den vier Bohémiens (zum Teil in Schlafanzügen, aber mit Mütze und Alpenbrille) steht die Welt offen: was kann man nicht alles erträumen, erleben und erhoffen! Erst recht, als Rodolfo die Bekanntschaft Mimís macht.
Die engelhaft-fragile Mimí indes wirkt seltsam unkörperlich. Nichts darf sie so richtig - sich bewegen, agieren - ausser immer wieder umzufallen. Daran konnten bei der Premiere am Freitag nicht einmal Maya Boogs Fähigkeiten und ihre Musikalität etwas ändern. Und natürlich weiss Rodolfo nicht wirklich, was mit ihr anstellen. Etwas ungeschickt versucht er ihre Hand zu nehmen, ist aber am glücklichsten, wenn er von der Welt und der Liebe bloss singen darf.
Wie auf den Leib geschneidert ist diese Sicht der Rolle David Lomelí. Der mexikanische Tenor entzückte mit seiner eher schüchternen Art fast genauso wie mit seinem Gesang. Die Stimme strömte förmlich aus ihm, mit schönen Tiefen, sehr arios, und doch waren die Phrasen immer fein belebt. Sein Freund Marcello stand ihm indes in nichts nach: Rezitativischer, klarer tönte Phillip Addis’ Bariton; dazu kam eine immense Bühnenpräsenz.
In den ersten beiden Bildern streicht die Regie mit einer gehörigen Prise Ironie heraus, wie unbeschwert, fantastisch und voller Attitüden die Welt der Bohémiens (Musetta: Agata Wilewska, Schaunard: Andrew Murphy, Colline: Nicholas Söderlund) ist. Unterhaltung gibts auch fürs Publikum, sogar Zaubertricks fehlen nicht. «Wir spielen hier Theater für euch - aber wir spielens gut!» ist die Devise.
Das Orchester unter Maurizio Barbacinis Leitung schlug noch etwas andere (ganz wunderbare!) Töne an. Nicht dass hier die Ironie gefehlt hätte. Durchaus mit Witz näherte man sich der Gattung «Oper», blieb dabei aber stets differenziert, farbig und sinnlich wohlklingend.
Nach und nach verdunkelt sich die Szenerie merklich, schwarz werden die Kostüme, karg der Hintergrund, und die Schneeschipper erinnern in ihren hohen Hüten an Totengräber. Attitüde wandelt sich in Ernst, und Licht scheint nur noch, wo Erinnerung ist (ein wunderbares Bild mit den durch Rodolfos und Marcellos Erinnerung erleuchteten Leinwänden).
Zum Schluss, wenn die todkranke Mimí die Freunde noch ein letztes Mal sehen will, ist alles finster. Ein einsamer Lichtkegel strahlt auf eine einsame Mimí herab. Sind die Stimmen der Freunde nur Wunschträume? Oder nimmt sie im Fieber die anderen kaum mehr wahr?
Einige Fragen blieben offen, Gewisses könnte diskutiert werden. Aber es war ein enorm dichter und, alles in allem, ein toller Abend.