Die Kunst des Weglassens

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (29.09.2008)

La Bohème, 26.09.2008, Basel

Die Puccini-Oper «La Bohème» neu am Theater Basel

Keine «Bohème» ohne Ofen und Bett – dachte man bisher. Am Theater Basel geht es doch: ohne diese Symbolrequisiten für die Künstlerarmut. Eine ungewohnte Sichtweise, die auf vorzügliche Sänger abstellen kann.

Der Dichter Rodolfo, der Maler Marcello, der Musiker Schaunard und der Philosoph Colline – sie hausen nicht in einer Pariser Dachkammer, sondern in einem grosszügigen Loft. Dass sie nur einen einzigen Stuhl besitzen, könnte man als Zeichen eines Wohlstands deuten, der aus rein ästhetischen Gründen auf strenge Ästhetik und karge Inneneinrichtung setzt. Schliesslich sind es die wohlhabenden Kulturen, die das Bauhaus, den Ornamentverzicht und die architektonische Sachlichkeit hervorgebracht haben.

Spätestens beim Hunger gilt die Gleichung «reich = asketisch» nicht mehr. Dass die vier die winterliche Bude mit einem Fondue-Rechaud heizen wollen und als Brennmaterial nur ihre künstlerischen Werke haben, weckt dann doch unser Mitleid.

David Hermann (Regie) und Christoph Hetzer (Ausstattung) zeichnen mit diesem Anfangsbild das Porträt einer verelendeten und keineswegs sich mit dem Elend abfindenden Künstlergruppe von heute, in die wie ein Engel vom Himmel eine zierliche junge Frau einbricht: Mimi. Ein einfacher Trick (die erloschene Kerze) und eine kleine Lüge (Mimis Schlüssel, den Rodolfo findet, aber einsteckt), und fertig ist die Zweierkiste zwischen Mimi und Rodolfo, die ganz im Zeichen des Tragischen stehen wird – denn Mimi ist von Krankheit gezeichnet, und Rodolfo kann ihr keine ärztliche Hilfe bezahlen.

«La Bohème» ist nicht nur wegen dieser sozialen Komponente ein modernes Stück, sondern auch wegen der hier verhandelten Beziehungsproblematik. Der in jeder Hinsicht dramatischen, stets gefährdeten Liebesbeziehung zwischen Mimi und Rodolfo steht eine Alternativbeziehung gegenüber, die zwischen der leichtlebigen Musetta und dem pragmatischen Maler Marcello. Glücklich werden sie vielleicht nicht, aber wenigstens bleiben sie am Leben. Das ist die gnadenlos harte Botschaft von Puccini und seinen Librettisten Giacosa und Illica.

ZAUBERBERGWELT. Inszenieren, sagte die grosse Regisseurin Ruth Berghaus einmal, sei die Kunst des Weglassens. Und die beherrschen die Basler Inszenatoren virtuos. Ofen und Bett sind nicht das Einzige, was sie einsparen. Sie verzichten auf Paris als Schauplatz – die Oper spielt hier in den Bergen, wo eine offenbar ebenso vermögende wie gelangweilte Klientel Wellnessferien verbringt. Im zweiten Akt ist der «Zauberberg» näher als der Paris-Roman von Henri Murger.

VERFREMDUNGEN. Die kühne Verpflanzung des Spielorts (der Kinderchor ist hier ganz in den Orchestergraben verbannt) führt zu originellen Verfremdungen, aber auch zu einigen textlichen Widersprüchen. Man nimmt sie in Kauf, weil einem hier frische Opernbilder und vom Konventionellen befreite Figurenzeichnungen geboten werden – zum Beispiel der quirligen Musetta mit ihrem Hündchen und ihrem (ein bisschen an den Philosophen Adorno gemahnenden) Liebhaber und Zahlmeister Alcindoro.

Gänzlich überraschend ist Mimis Sterbeszene am Schluss: Mimi, die eigentlich Lucia heisst, verdoppelt sich in eine Tote, die liegen bleibt, und eine Seelenfigur, die eine vom Himmel herabgesenkte Totenkapelle besteigen wird. Ein bisschen katholisch-mystische Romantik darf offenbar doch sein.

Zum Hauptanziehungspunkt der Basler Aufführung wurde das Engagement des jungen mexikanischen Tenors David LomelÌ in der Partie des Rodolfo. Dieser Sänger, den die Regie ein bisschen wie ein ungelenkes Riesenkind zeichnet, fegt vom ersten Ton an das Klischee weg, am Theater Basel werde zwar interessant inszeniert, aber nur mittelmässig gesungen.

Stimmkraft. Schon die ersten, mit staunenswerter Leichtigkeit hingetupften Töne dieses bereits vom internationalen Musikbetrieb entdeckten Sängers nehmen einen gefangen, erst recht dann seine herrliche «Manina»-Arie mit lang ausgehaltenem hohen C und perfekter Stütze. Abgesehen von einem versungenen «Addio» legte LomelÌ in der Premiere am Freitag ein fabelhaftes Basler Debüt auf die Bretter.

Maya Boog ist Mimi, und da man die beliebte Darstellerin von vielen Aufführungen her als ausstrahlungsmächtige und kultivierte Sopranistin kennt, war es keine Überraschung mehr, dass sie auch als Puccini-Mimi glänzte. Ihre Stimme ist mittlerweile von einem bewundernswerten reifen Ebenmass und einer Intensität, die es ihr erlauben, auf jedes Forcieren zu verzichten. Zusammen mit David LomelÌ ist sie, die von der Regie im vierten Akt in ihrer Sterbenseinsamkeit allein auf der Bühne ausgestellt wird (perfekte Lichtregie!), ein starker vokaler Pluspunkt der Basler Produktion.

Das soll die sängerischen Leistungen von Agata Wilewska als Musetta und von den Bohémien-Karikaturen Marcello (sehr bühnenwirksam und mit klar zeichnendem Bariton: Phillip Addis), Schaunard (Andrew Murphy) und Colline (Nicholas Söderlund) nicht schmälern. Ganze Arbeit leisten die Chöre (Leitung Henryk Polus, Markus Teutschbein). Im Orchestergraben sorgt der italienische Gastdirigent Maurizio Barbacini mit dem ausgezeichnet präparierten Sinfonieorchester Basel für ausgeprägte musikalische Charaktere und guten Kontakt zur Bühne. Da dürfen die Geigen im Liebesduett im ersten Akt auch mal schluchzen.

Am Ende tosender Beifall vor allem für David LomelÌ und Maya Boog, gemischte Reaktionen für das Regieteam und viele feuchte Augenpaare im Premierenpublikum.