Hochgemute Utopie im Tiefflug

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (07.10.2008)

Fidelio, 05.10.2008, Zürich

Opernhaus Katharina Thalbach und Bernard Haitink mit einer Neuinszenierung von «Fidelio»

Katharina Thalbach inszenierte Beethovens einzige Oper «Fidelio» sozusagen ab Blatt. Die Premiere am Sonntagabend wirkte entsprechend konventionell, um nicht zu sagen: etwas bieder.

Sie kann vieles sein und durchaus heterogen, Beethovens einzige Oper «Fidelio»: Ein Hymnus auf die eheliche Liebe, wie es im Untertitel zur ersten Fassung noch hiess; eine Rettungsoper mit einem humanistischen Bekenntnis zur politischen Selbstbestimmung. Oder aber die reine Utopie der Freiheit, wie sie nur in der Kunst zur Darstellung kommen und zum Erlebnis werden kann. Beethoven war, zumindest in musikalischer Hinsicht, ein Moralist, der nur einen sittlich erhabenen Operntext vertonen konnte (wie er selber bekannte), und er war gleichzeitig wohl der erste wirklich politische Komponist.

Für «Fidelio» hat das zur Folge, dass der hohe moralische Anspruch dieser Oper stellenweise nur schwer mit ihrer musiktheatralischen Erscheinungsform auf einen Nenner zu bringen ist. Zumal Beethoven zwischen heroischer Oper und Singspiel, zwischen Oratorium, gesprochenen und musikuntermalten Dialogen sich frei, aber nicht immer überzeugend hin- und herbewegt. Das hat letztlich auch mit der Entstehungsgeschichte der Oper zu tun, die sich insgesamt über zehn Jahre erstreckte und dabei eine kontinuierliche Vertiefung der musikalischen Moral bis hin zum Heroischen bewirkte.

Spielerische Oberfläche

Katharina Thalbach - unvergessen ihre wunderbar einfühlsame Inszenierung des «Schlauen Füchslein» am Opernhaus - nahm den Wortlaut der Partitur ernst, ohne dem Werk gleichsam von aussen her ein Konzept überzustülpen, welches die Bedeutungsvielfalt auf einen einzigen Aspekt einengen würde. In Ezio Toffoluttis Bühnenraum, der die Innenwelt eines Gefängnisses abbildet und in seiner schwerlastigen Architektur an die monumentalen Kerkerbilder von Piranesi erinnert, inszenierte sie die einleitenden Singspiel-Nummern mit unbekümmerter, ja verspielter Leichtigkeit. Details in der Personenkonstellation - etwa im berühmten Quartett, wo vier verschiedene Personen in ganz unterschiedlicher Seelenverfassung singen - wurden mit wenigen Handgriffen sofort einsehbar gemacht, etwa durch das Einschenken eines Tässchens Kaffee.

Kammerspiel war das, so weit, so gut - aber es blieb, je weiter die Aufführung fortschritt, desto mehr an der spielerischen Oberfläche. Der Auftritt der Gefangenen, der berühmte Gefangenenchor, war kaum mehr als ein Auftritt und ein schön gesungener Chor, szenisch-visuell ohne jene Tiefendimension, von der die Musik doch Takt für Takt kündet. Erst recht die Kerkerszene im zweiten Akt, kulminierend in Leonores existentiellem Aufschrei «Töt erst sein Weib», war meilenweit von der lebensentscheidenden Bedeutung dieser Szene entfernt - da nutzte auch Leonores Entblössen ihrer Brüste nicht viel.

Enttäuschende Rollendebüts

Selbst das Freudenfinale vermochte in keiner Weise «abzuheben» in höhere Sphären einer humanen Utopie, sondern blieb am Boden verhaftet, ein buntes Schlusstableau im szenischen Tiefflug, ein bisschen wie im ambitionierten Dorftheater. Und dass ganz zum Schluss - oder habe ich das falsch gesehen? - noch eine Maus über die Bühne rannte, könnte da sogar richtig gut dazupassen.

Auch sängerisch steht es mit dieser Neuinszenierung nicht zum Besten. Melanie Diener sang ihre erste Leonore - sicher in der lyrischen Linienführung und einigermassen deutlich in der Diktion. Aber der Stimme fehlt jene entscheidende Dimension, die das existenziell Grenzgängerische dieses Frauenschicksals vokal glaubhaft zu vermitteln vermöchte. Roberto Saccà verfügt als Florestan - auch ein Rollendebüt - zwar über eine sichere Höhe. Aber sobald seine Stimme, der es in der Tiefe an Resonanz fehlt, unter «heldischen» Druck gerät, stört ein tremolierendes Vibrato. Auch Lucio Gallo gewann als Don Pizarro trotz gefährlich schief gezogener Bösewicht-Miene stimmlich wenig Profil.

Bravos für Bernard Haitink

Hervorragend in Spiel und Gesang ist Sandra Trattnigg als Marzelline - jeder Zoll eine lebendige Figur. Eher konventionell im gestalterischen Zuschnitt, aber liebenswert im vokalen Profil ist Alfred Muff, der zum ersten Mal den Kerkermeister Rocco sang. Dagegen wirkte Christoph Strehl als Jaquino stimmlich blass; seine schauspielerische Gestaltung der Partie indes hatte anrührende Züge. Kresimir Strazanac (Don Fernando), Boguslav Bidzinski und Morgan Moody (Erster und Zweiter Gefangener) rundeten das Ensemble unauffällig ab. Das eigentliche Drama indes spielte sich im Orchestergraben ab - und wie! Unnachahmlich, mit welcher Klarheit und mit welchem Feuer Bernard Haitink dirigierte, wie es ihm gelang, bei harmonischen Übergängen gleichsam ein Tor in eine neue Welt aufzuschliessen. Unvergleichlich auch der Beginn des zweiten Aktes, der Aufschrei der Blechbläser ins Piano-Tremolo der Streicher - wie das alttestamentarische «Aus der Tiefe ruf ich zu dir».

Nichts auch nur entfernt Aufgesetztes störte den leidenschaftlichen Ernst, mit dem hier musiziert wurde, und das Orchester der Oper Zürich war voller Elan dabei: reaktionsschnell, präzise, aufmerksam und jederzeit gleichsam auf dem Sprung. Bernard Haitink hat den grossen Atem für diese Musik, und das bis zur eingeschobenen dritten Leonoren-Ouvertüre, die er mit derart befeuerter Brillanz und einer sozusagen humanen Zielstrebigkeit dirigierte, dass das Haus geradezu in einen Taumel geriet - in einen wahren Begeisterungstaumel mit frenetischem Beifall und Bravorufen. Verdientermassen.