Die Regie erstarrt in Demut vor Beethovens Oper

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (07.10.2008)

Fidelio, 05.10.2008, Zürich

Der neue «Fidelio» am Zürcher Opernhaus: musikalisch kernig und voller Verve, szenisch eine Ernüchterung.

Im allerletzten Moment - da ist der Vorhang schon fast unten - rankt sich auf einmal Efeu die kargen Mauern hinauf, und aus einem staubigen Loch rast eine rotäugige (Spielzeug-)Ratte auf die Bühne. Das geschieht so kurz und schnell, dass man es kaum mehr wahrnimmt, und doch ist es fast die einzige überraschende Idee beim neuen «Fidelio» in Zürich. Ganz zum Schluss kommt hier plötzlich der Schalk hervor, den man aus Katharina Thalbachs Inszenierung des «Schlauen Füchsleins» von Leos Janácek kennt. Zuvor aber - einen langen Abend lang - scheint sie vor Beethovens Rettungsoper und der humanistischen, ja utopischen Botschaft demütig zu werden, ja geradezu in Ehrfurcht zu erstarren.

Diese so starke Botschaft bringt auch Schwächen mit sich. «Fidelio», das Bekenntniswerk Beethovens, erreicht nie die psychologische Tiefe einer Mozartoper. Zwar gibt es auch hier Liebeswirren, recht delikate sogar, denn Marzelline, die Tochter des Kerkermeisters Rocco, verliebt sich in den neuen Burschen Fidelio und soll diesem sogar angetraut werden - wobei sie nicht ahnt, dass sich hinter dem jungen Mann eine Frau, Leonore, verbirgt, die auf der Suche nach ihrem verschwundenen Gatten Florestan ist.

Aber das bleibt Zutat in dem Stück, denn weitaus mehr interessierten Beethoven die Gefangenenchöre (die der Opernhauschor kraftvoll vortrug) und vor allem jener überwältigende magische Lichtmoment, wenn auf dem Höhepunkt des Dramas (der Gouverneur Pizarro will Florestan erdolchen, was Fidelio gerade noch verhindert) aus der Ferne die freiheitverheissende Fanfare erklingt. Darauf zielt alles ab, und darum herum gruppiert sich der Rest. Es gibt darunter schöne Nummern, ja sogar feine Ensembles, aber das dauert alles zu lange. Die Musik dreht sich manchmal auf der Stelle, ohne recht vorwärtszukommen; die Texte wirken holprig. Vor allem der höhepunktlose erste Akt ist von jeher ein Problem. Thalbach versucht das ein bisschen in Personenzeichnung zu überspielen, ein paar Details und Charakterzeichnungen fallen auf, aber als Ganzes kommt es nicht zum Tragen.

Irgendwie scheint auch der grosse holländische Dirigent Bernard Haitink diesem ersten Akt nicht ganz zu trauen. Er wählt sehr flüssige Tempi, was den Sängern zuweilen die Möglichkeit nimmt, sich auszusingen, er trägt die Stimmen etwas zu wenig und übertönt sie mit dem Orchester sogar für ein paar kurze Momente. Aber er schält auch einen kernigen Klang heraus, betont kurze, antreibende Motive, hält die Musik in einem unaufhaltsamen Energiestrom und verleiht ihr vor allem Kanten, Farben und Konturen.

Hübsch anzusehen, aber brav

Gerade das vermisst man in der Regiearbeit von Katharina Thalbach. Gewiss muss es nicht jedes Mal und unbedingt eine Neu- oder Umdeutung sein. Diese Inszenierung ist hübsch anzusehen, zuweilen fein beobachtet, aber sie bleibt brav. Wir begegnen Leuten von nebenan: Rocco ist ein gmögiger, innerlich redlicher Kerkermeister - Alfred Muff gestaltet ihn generös. Nervosität und Enttäuschung drückt sich in Marzellines verhindertem Liebhaber Jaquino (Christoph Strehl) aus. Diese wiederum wird in der Darstellung von Sandra Trattnigg zur überzeugendsten Gestalt des Abends.

Ausnahmsweise nicht rabenschwarz, sondern gigolohaft weiss kommt Pizarro daher: mit boshaft verschmierten Untertönen angedeutet von Lucio Gallo, aber kaum dämonisch oder gefährlich. Und dann die Protagonisten: Roberto Saccà als Florestan singt zwar durchaus schön, aber man nimmt ihm seine Gefühle nicht recht ab. Das Leiden ist künstlich, und es blühen auch keine Erinnerungen an einstige Frühlingstage auf. Melanie Diener als Leonore/Fidelio hingegen ist eigentlich empfänglich für die leisen Töne, auch für die menschlichen Zwischentöne, die durch ihre Doppelrolle entstehen, aber wenn sie sich ins Heroische, ins Dramatische steigern soll, folgt ihre Stimme kaum sicher genug, gerade in den Höhen.

So erlebt man eine insgesamt blasse Darstellung in weiten Räumen. Einen hohen Gefängnishof hat Ezio Toffolutti entworfen und einen eindrücklich dunklen, zerfallenden Kerker, der an die labyrinthischen «Carceri d’invenzione», die Radierungen Giovanni Battista Piranesis, erinnert. Aber die Regie zieht aus diesen suggestiven Spielflächen wenig Nutzen: Das Verlies wirkt flach, nicht eng, nicht bedrängend. Nirgends ein Gefühl der Beklemmung. Und genau das bleibt als Gesamteindruck haften: Diese ganze Handlung entwickelt szenisch keine Notwendigkeit.

Musikalisch hingegen durchaus. Unter Haitinks Leitung steigert sich das Orchester enorm. Die Leonoren-Ouvertüre, traditionell zwischen den beiden Bildern des zweiten Akts eingeschoben, gewinnt an Schärfe und entfaltet eine begeisternde Verve. Und zum Schluss trägt der Jubel das Stück in einem grossen Gesamtklang hinweg.