Andrea Meuli, Die Südostschweiz (07.10.2008)
Bernard Haitink sorgt mit seinem «Fidelio» an der Oper Zürich für eine musikalische Sternstunde. Durchzogen waren bei der Premiere am Sonntagabend indes die Leistungen des Sängerensembles.
Wir sind eingeschlossen, ein kahler, halbrunder Bau schliesst die Bühne nach hinten ab, ohne Ausblick. Vergittert die Fenster, eine nüchterne Architektur, irgendwo zwischen Faschismus und Sozialismus, grau verschmutzte zeitlose Realität. Das Leben hier ist Gefängnis, auch für die Menschen, mit denen das Singspiel vordergründig munter losgeht. Eine eindrucksvolle Bühne für ein Stück, das sich hartnäckig jedem konsequenten Inszenierungszugang versperrt. Und wenn im zweiten Akt die Düsternis mit einem Piranesis legendären «Carceri» nachempfundenen Labyrinth mit einem steilen Treppensystem in die unentrinnbare Tiefe führt - dann bedrängen uns Sinn und Inhalt der Zürcher Inszenierung von Ludwig van Beethovens «Fidelio» fast schon physisch (Bühne und Kostüme: Ezio Toffoluti).
Leonoren-Ouvertüre «eingestreut»
Ironischer- wie konsequenterweise erreicht die Aufführung im Zürcher Opernhaus gerade dann ihren spannungsvollen Höhepunkt, als sich das Geschehen in der Musik verdichtet: Dirigent Bernard Haitink nimmt die Tradition auf, zwischen Kerker und gleissender oratorischer Schlussjubelfeier - unterbruchslos nach Leonores und Florestans glühendem Liebesbekenntnis - Beethovens dritte Leonoren-Ouvertüre zu spielen: Noch einmal erleben wir das ganze Drama in grösstmöglicher Konzentration. Dumpf stampfende Bedrohung und blinder Jubel, beklemmende Ordnung und entgrenzte Emphase - atemberaubend bis in die letzte orchestrale Feinheit ausgespielt und dennoch nie selbstverliebt oder vordergründig. Jede Stimme, ja jede Note hat Platz, ihren richtigen Platz, und ist mit Leben, mit Wärme beseelt.
Dynamisch wie in kleinsten Temporückungen verdichtet Haitink Beethovens Partitur zu schier berstender Expressivität und lässt das grandios mitspielende Orchester die ganze Geschichte glaubwürdiger mitleben als es jede Inszenierung je könnte. Eine musikalische Sternstunde, wie sie in Erinnerung bleibt, ohne Frage.
Regisseurin Katharina Thalbach, die am Zürcher Opernhaus bereits ein wunderbar stimmiges «Füchslein» von Leos Janacek abgeliefert hatte, geht das so ganz und gar nicht auf eine Linie trimmbare Stück szenisch mit Liebe und offensichtlich mit dem ganzen Glauben an dessen Wahrhaftigkeit an. Sie liefert es (bis auf zwei, drei überflüssige Schmunzeleinlagen) nie dem Slapstick aus, legt alles sprachliche Wissen in einen natürlich-glaubwürdigen Dialogfluss und lässt «Fidelio» seine Ambivalenz und dramaturgischen Brüche - über alle Epochen und seelischen Gestimmtheiten der einzelnen Figuren hinweg.
Thalbachs Figuren sind Menschen, die notgedrungen so handeln, wie sie es tun, keine Pappkameraden. Das ist schon recht viel, zumal die Inszenierung der Musik allen Raum lässt und sie nicht durch konterkarierende szenische Aktionen zubaut. Keine spektakuläre Vision also, da und dort ein bisschen biederes Stadttheater mit lemurenhaft bemalten Gefangenen und unentwegt patrouillierenden Bewachern in luftiger Szenenhöhe, doch im Ganzen eine redliche Theaterarbeit.
Opferlamm statt Kämpferin
Melanie Diener zeigte sich am Premierenabend am Sonntag als eine ungemein differenziert gestaltende Sängerin mit kostbar schillernden Stimmfarben - solange sie sich nicht in scharfe Attacken und dramatische Höhen hineindrehen musste. Und solche erfordert Beethovens - zugegeben nicht gerade stimmfreundlich komponierte - Leonore nun mal. Da hilft es wenig, dass heutige Hörgewohnheiten und der vergleichsweise kleine Raum der Zürcher Oper durchaus einen lyrischeren Zugang ermöglichen. Zumindest am Premierenabend blieb der Eindruck haften, dass Diener sich in dieser Partie (noch?) nicht richtig wohl fühlte. Ein Eindruck, noch verstärkt durch ihre szenische Umsetzung, welche noch in den extremsten Situationen seelischer Anspannung körperlich merkwürdig kraftlos blieb. Diese Leonore schien eher Opferlamm denn entschlossene Kämpferin bis in den Tod.
Ebenfalls ein Rollendebüt gab Roberto Saccà als Florestan. Und auch seine Stimme schien sich in dieser Partie zu versteifen. Dankbarere Aufgaben hatte der andere Rollenneuling zu erfüllen - und punktete prompt beim Premierenpublikum: Alfred Muff orgelte Rocco mit fundierten Bassklängen als einen jovial zugänglichen Helfershelfer brutaler Schergengewalt, der sich einzig seine bürgerliche Welt zu bewahren sucht. Sandra Trattnig in der Rolle seiner Tochter Marzelline gehörte mit blühendem Sopran ebenfalls zu den Pluspunkten dieses Abends. Gleiches gilt für Kresimir Stazanacs Minister, derweil Lucio Gallo als Scherge Pizzarro szenisch, vor lauter aufgesetzten Mafiaboss-Allüren sowie finster gerollten Augen und dramatisch vorgeschobenem Unterkiefer, die Grenze zur Karikatur bedrohlich ankratzte.