Die grosse Ouvertüre im Zentrum

Herbert Büttiker, Der Landbote (07.10.2008)

Fidelio, 05.10.2008, Zürich

Vor allem: eine Einladung, den in Zürich ja stets präsenten «Fidelio» neu zu hören. Dabei bietet Bernhard Haitink nicht eine neue Sicht, sondern «nur» eine in der Ausdrucksfülle des Details genau ausgehorchte und spannungsvolle Wiedergabe.

Es ist, als ob sich an diesem Abend alle Kräfte im Orchester versammelten und vom Altmeister am Pult eine zwar nie subjektiv aufdringliche, aber rigorose Dominanz ausging. Die Bühne, und das ist die Kehrseite eines musikalisch grossartigen Abends, hält dem nicht ganz stand: die Inszenierung nicht, die sich in einem durchaus konturierten illustrativen Rahmen bewegt, die Protagonisten mit all dem nicht, was sie an Verve für die herausfordernden Partien durchaus mitbringen. Der ganz grosse Jubel an der Premiere gilt denn auch Haitink und dem Orchester mit der 3. Leonoren-Ouvertüre vor dem Finale.

Glücklich beginnt der Abend mit dem kleinbürgerlichen Arbeits- und Liebesgeplänkel, das sich mit Sandra Trattnigg als Marzelline, Christoph Strehl als Jaquino und Alfred Muff als Kerkermeister Rocco in der düsteren Gefängniswelt nicht ungemütlich einrichtet. Die Balance zwischen musikalischer Feinarbeit im Orchester und Konversationston auf der Bühne ist à point, die Regisseurin Katharina Thalbach überzeichnet das Genrehafte nur leicht, wenn sie Seifenblasen steigen lässt. Sehr schön gesehen ist von ihr der Wechsel vom Lustspiel zum Drama mit dem Triumph der Marzelline, die Fidelio endlich einen Kuss abluchst und vor Seligkeit vergeht, während der Marsch im Orchester die Ankunft Pizarros ankündigt!

Aber dann geht leider das Lustspiel weiter. Pizarro, Typ Mafioso im weissen Anzug und Strohhut, bekommt von Lucio Gallo zwar stimmliche Schwärze und schneidende Attacke genug, aber zusammen mit dem wild chargierenden Mienenspiel und den Gängen durch und über das Laufgitter führt er einen Klischee-Bösewicht vor, der so in keinem Regiebuch eines ernsten Dramas stehen sollte.

Ganz anders seine Gegenspielerin Leonore. Melanie Diener, das ist vielleicht ihr grösster Vorzug, hat keinen Moment von falschem Pathos, keinen Moment, wo die Figur gemacht ist: Sie entwickelt sich einfühlsam aus der unmöglichen Situation als Marzellines Bräutigam heraus, reserviert, fast schüchtern, und wächst mit der Aufgabe, aber ohne Heroismus zu zelebrieren. Das gilt, irritierend für ihr Rollendebüt, auch für die musikalische Bewältigung der Partie, die im Terzett des ersten Aktes von eigentlichen Schwächen geprägt ist sich an diesem Abend nie ganz befreit. Auch in der grossen Arie lässt sie zu wenig vergessen, dass Beethovens Expressivität oft auch vokalen Raubbau bedeutet. Auf der Höhe ist sie mit ihrem Auftritt in der Kerkerszene – bis hin zum hohen b des «Töt erst sein Weib!» Den Effekt, dass Leonore hier nicht wie sonst ihre langen Haare, sondern die Brüste entblösst, brauchte es da nicht, aber die Dramatik dieses Quartetts ist von einer Wucht, die auch alle Gefahr nahe liegender Komik bannt.
Dass Haitink mit dem Orchester zwar sehr differenziert, aber durchaus klangstark operiert, zeigt sich freilich gerade in dieser Szene auch. Weniger bedrängt als Melanie Dieners schlanker Sopran werden die Männerstimmen, die mit einer gewissen Penetranz Druck aufsetzen. Das wirkt zwar gern etwas eintönig, aber Roberto Saccà bewältigt so auch die Florestan-Arie mit ihren ekstatischen Aufschwüngen «ins himmlische Reich» zu Beginn der Kerkerszene mit Format.

Unwirtliche Gefängniswelt

In Erinnerung wird die Kerkerszene nicht nur wegen der musikalischen Hochform bleiben, die auf der Bühne hier erreicht ist: Dem neuen Zürcher «Fidelio» hat Ezio Toffolutti, angeregt durch Piranesis berühmte «Carceri», eine schauerliche Kerkerszenerie gebaut. Ein eindrücklicher Schauplatz ist aber auch schon der Innenhof für den ersten Akt mit seinen hohen grauen Mauern, den vielen Eisengittern und der zisternenartigen Geschlossenheit. Ob die Inszenierung mit den Gefangenen in ihren schmutzigen, gelben Gewändern etwas gar dick aufträgt, bleibe dahingestellt: Die musikalische Intensität von Chor und Orchester, der Farbwechsel von «freier Luft» und «Gruft», erübrigt die Frage.

Einen magistralen Auftritt hat der Chor, nun vierstimmig, auch im zweiten Finale. Ratlosigkeit verbreitet hier freilich die Regie. Der Hof füllt sich mit Frauen, die ihre befreiten Männer umarmen. Schnell aber trennen sie sich zur heiteren – musikalisch unbegründeten – Mann-Frau-Choreografie, während im Hintergrund Pizarro exekutiert wird. Der Minister (Kresimir Strasanac) steht etwas verloren auf der Bühne, die sich plötzlich leert: Platz für die Ratten, die am Ende herumsurren! – Gewiss: Mehr als ein kurzes Aufleuchten gibt es für die Utopie der Freiheit in dieser Welt ja nicht, aber wo ist hier der Platz für diese Einsicht? Beethovens Jubel- Finale ist eine einzige grosse Fermate. Sie gilt diesem Aufleuchten aus der absoluten Verbindlichkeit einer Partnerschaft, die das finale C-Dur feiert. Eigentlich etwas Heiliges.