Tod durch Unterkühlung

Eva Bachmann, St. Galler Tagblatt (20.10.2008)

La Traviata, 18.10.2008, St. Gallen

Giuseppe Frigenis Inszenierung von Giuseppe Verdis «La Traviata» am Theater St. Gallen verzichtet auf jeden Plüsch. Sie sucht stattdessen den kühlen Blick auf das Altbekannte.

Auf allen Kanälen «La Traviata»: im HB und am Fernsehen, in Basel getanzt und nun auf der St. Galler Opernbühne. Was kann das Theater noch Neues, Eigenes bieten zu dieser Geschichte von der tuberkulösen Kurtisane Violetta, die mit Alfredo eine unstandesgemässe Liebschaft eingeht, durch gesellschaftliche und familiäre Turbulenzen endlich ihr Glück findet und am Schluss einfach wegstirbt? Das Theater hat sehr wohl Trümpfe in der Hand und Giuseppe Frigeni spielt sie aus, indem er nicht die wiedererkennbaren Bilder reproduziert.

Rüschenfrei

Zuerst einmal holt Frigeni die «Traviata» aus der plüschigen Welt des Boudoirs. Nicht einmal ein Bett gibt er der Kranken: Zur Ouverture sitzt sie abgewandt hinter dem Gazevorhang in einem kühl ausgeleuchteten fast leeren Raum auf einem harten Quader mit Leintuch. Ihre Bewegungen folgen jener der Musik – auf lichte, heitere Momente folgen krisenhafte Krankheitsschübe. Das zurückhaltende Bild verweist auf das Orchester, öffnet schon einmal die Ohren für die Motive, die Verdi immer wieder aufnehmen wird.

Die nächste Ernüchterung kommt mit der zweiten Szene: Kein rauschendes Fest, keiner tanzt in diesem Saal, dessen einziger Prunk die Vorhänge sind. Die graue, vollkommen rüschenfreie Gesellschaft hat sich bereits von der kranken Violetta abgewandt. Und Alfredo ist alles andere als ein weltläufiger Galan. Jeder Tenor würde sich an die Rampe vordrängen, um das berühmte Trinklied auszubringen, dieser aber verdrückt sich in die hinterste Ecke.

An der Premiere vom Samstag verrutschten die ersten Einsätze fast durchwegs. Halb so schlimm, möchte man fast sagen, weil sich danach alle gefasst haben – und vor allem, weil dieses Verrutschen Programm hat. Hier stimmt etwas nicht, nicht nur mit unserer Erwartung, sondern auch in dieser Gesellschaft. Frigeni weckt Interesse an den Figuren, die man neu wahrnimmt, weil er die Äusserlichkeiten auf ein Minimum reduziert. Vorhänge, ein Podest und Licht genügen ihm, die Lilienplantage im zweiten Akt wirkt schon fast üppig, der Tänzer (Nunzio Verdinero) für das Bacchanal wäre nicht einmal nötig.

Charakter-Rollen

Dieser Lover ist ein Zauderer, er blickt der Angebeteten kaum in die Augen und singt von seinem Leben «quasi in ciel», ohne die Hand aus dem Hosensack zu nehmen. Violetta agiert immer einen Tick zu dramatisch und man weiss nie, ist's gespielt oder kommt's von Herzen. Als graue Eminenz wirkt Alfredos Vater Germont, der mit kalter Berechnung die Zerstörung der Beziehung vorantreibt.

Die darstellerischen und stimmlichen Leistungen gehen mit diesen Charakterisierungen Hand in Hand. Derek Taylor als Alfredo ist ein warm timbrierter Tenor, hat gegen seinen Vater (Roberto de Candia) aber stimmlich wenig Chancen. Der Bariton tritt denn auch sehr bestimmt auf, so emotionslos wie er singt keiner «Piangi, piangi». Und Elaine Alvarez in der Rolle der Violetta hat ihre besten Momente in den eruptiven Arien, die lyrischen Zwischentöne wirken dagegen stets etwas überladen.

Ausserdem hat Katja Starke einen starken Auftritt als Flora, ihr merkt man den Hunger förmlich an, dereinst Violetta als erste Dame der Halbwelt zu beerben. Sie bekommt auch als einzige ein richtiges Abendkleid (Kostüme: Lili Kendaka), während die anderen Damen sehr zurückhaltend, Violetta nahezu unwürdig eingekleidet sind. Die männlichen Solisten tragen zeitlose Anzüge in mattglänzenden Metalltönen.

In den leeren Räumen spielt der Chor eine wichtige atmosphärische Rolle. Die Regie verlangt keinen Walzer, sondern setzt ihn als statische Masse Gesellschaft ein. Das kommt dem Klang eindeutig zugute (Einstudierung: Michael Vogel). Einen gelungenen Höhepunkt erlebt diese «Traviata» denn auch im Schlussbild des zweiten Akts, in dem Verdi alles auffährt: den Chor, die Solisten und das volle Orchester – ein Gewusel, in dem doch die einzelnen Stimmen gehört werden sollen. Maestro Maurizio Barbacini meisterte nicht nur diese Szene mit Bravour, er ging sehr adäquat auf die Regie ein: Nüchtern im Klang und mit viel Sorgfalt in der motivischen Arbeit.

Wie Verdis Musik spannt auch Frigenis Regie motivische Bögen über den ganzen Abend. Die Geste zu Ende des Vorspiels ist dieselbe wie im Sterben am Schluss; das Fenster auf dem Vorhang wiederholt sich später im Sterbezimmer, es trennt Violetta von der Welt, wo die Musik spielt.

Rätselbilder

Ausserdem arbeitet Frigeni stark mit Licht und Schatten, und seine gestischen Einfälle wachsen sich manchmal zu Pantomimen aus – auf die Spitze treibt er das vor dem letzten Bild mit Violetta ganz allein vor dem Vorhang: Immer wieder fährt sich die Todkranke mit dem Handrücken über Mund und Nase. An anderen Bildern rätselt man auch nach der Vorstellung noch herum, sie gehen uns nicht mehr aus dem Kopf. Aufs Herz zielt Frigeni indes nicht, er will keine Tränen, die im Plüsch versickern. Seine Traviata stirbt geradezu an Unterkühlung. Etwas kühl war denn auch der Applaus, zu kühl, gemessen daran, was der Abend an Interesse für ein bis zum Ermüden abgespieltes Werk zu wecken vermochte.