Meisterwerk mit Stärken und Schwächen

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (11.11.2008)

The Greek Passion, 09.11.2008, Zürich

«The Greek Passion» von Bohuslav Martinů im Opernhaus Zürich

In einem Kirchturm ist er aufgewachsen, der Vater war Turmwächter, und zum Amt gehörte eine Dienstwohnung. Zur Einsamkeit kam später das Schicksal des Emigranten. In Frankreich wartete er 1941 auf die Ausreise nach den USA, in den USA 1948 auf die Rückkehr in die heimatliche Tschechoslowakei, gestorben ist er 1959 im Alter von 58 Jahren in der Nähe von Basel, wo er zu Gast war bei dem Mäzen und Dirigenten Paul Sacher. Der tschechische Komponist Bohuslav Martinů hatte ein alles andere als einfaches Leben; immer und immer wieder musste er an die Tür klopfen und um Aufnahme bitten.

Dissonanzen

Genau darum geht es in der «Griechischen Passion», seiner letzten Oper, die 1961 unter der musikalischen Leitung von Paul Sacher und in der Inszenierung des damaligen Direktors Herbert Graf am Stadttheater Zürich zur Uraufführung gekommen ist. Und genau darin liegen sowohl die Stärke als auch die Schwäche des Stücks. Überaus eindrucksvoll noch heute – nein: heute erst recht – die Geschichte von dem gut betuchten Dorf in Griechenland, vor dessen Mauern die Nachbarn erscheinen und, da sie von gegnerischen Kräften ausgeplündert wurden, um Unterstützung bitten. Und berührend die langsame, unaufhaltsame Entwicklung im Inneren der um tätiges Mitleid gebetenen Gesellschaft – indem nämlich die für ein kommendes Passionsspiel ausgesuchten Bürger ihre Rollen von Jesus und einigen Aposteln immer wörtlicher nehmen, indem sie dieses tätige Mitleid zu leben beginnen und dadurch fürs Establishment zu Störefrieden werden, die am Ende mit Gewalt beseitigt werden.

Auf der anderen Seite mag man am Ende der Vorstellung denken, dass es so einfach wohl doch nicht sei. So einfach, wie es Martinů in dem von ihm selbst nach einem Roman des Griechen Nikos Kazantzakis gezimmerten Text schildert und wie er es in seiner Musik ausformt – einer Musik, die von hohem Ton und mächtiger Geste in Dur und Moll lebt. Die Zürcher Uraufführung von 1961, damals gab es das noch, wurde zweifellos auch deshalb mit so viel Wohlwollen aufgenommen, weil das Stück fünfzehn Jahre nach Kriegsende den Finger auf jene Wunde legte, die mit dem fatalen Satz vom vollen Boot bezeichnet worden war. Es gab aber auch kritische Stimmen, und vielleicht muss man ihnen heute ein wenig recht geben. Nicht dass einer in den späten fünfziger Jahren so unverhohlen tonal komponiert hat, ist das Skandalon; Martinů war nun einmal ein Komponist, der seinen sehr eigenen Weg gegangen ist. Aber die geradezu plakative Art, in der er die Mittel der Dur-Moll-Tonalität einsetzt, hat schon etwas Fragwürdiges.

Mag sein, dass dieser Eindruck auch auf die an sich verdienstvolle Neuinszenierung der «Griechischen Passion» durch das Opernhaus Zürich zurückgeht. Anders, als es die hier in der englischen Originalsprache gesungene Oper vermuten lässt, anders auch als vor knapp zehn Jahren bei den Bregenzer Festspielen, wird Martinůs Oper in Zürich nicht in jener Erstfassung von 1957 gespielt, welche die Covent Garden Opera abgelehnt hat, sondern in der unmittelbar danach vom Komponisten erstellten Zürcher Version. Darüber hinaus wird diese Zürcher Version hier nun aber durch Einsprengsel aus der Londoner Partitur zu einer im Grunde nicht vertretbaren Mischfassung ergänzt. Geprägt wird sie von hohem Ton und ungebrochenem Pathos – und der junge, aus Norwegen stammende Dirigent Eivind Gullberg Jensen unterstreicht das nach Massen. Das Orchester und der in den Frauenstimmen stark vibrierende Chor der Oper Zürich klingen ausgesprochen pastos; das Dissonante ist gemildert, in den Klangstrom eingebunden, und insgesamt herrscht eine Lautstärke, welche die Sänger zu schablonenhafter Kraftentfaltung nötigt. Womit das Stück in einer Weise zur Oper wird, die seinem Anliegen widerspricht.

Alfred Muff als dem auf Besitzstandwahrung und Machterhaltung erpichten Priester Grigoris macht das naturgemäss wenig Mühe – das heisst: Im ersten Teil des widersinnig durch eine Pause geteilten Abends wird auch dieser kraftvoll strömende Bass da und dort durch das Orchester verdeckt. Im Gegensatz zu Muff ist Pavel Daniluk als der Priester des um Aufnahme bittenden Dorfes zu fast kontinuierlichem Röhren gezwungen. Auch Roberto Saccà, der von den Dorfältesten zum Darsteller des Jesus auserkorene Schafhirt Manolios, der seine Aufgabe zu ernst nimmt und dafür mit dem Leben zahlt, gibt etwas viel tenoralen Druck; glaubhaft verkörpert er jedoch die Entrückung des jungen Mannes. Unter dessen Anhängern findet sich der rührende Postbote Yannakos; er wird in Zürich nicht, obwohl es ganz danach aussieht, von Luciano Pavarotti gesungen, sondern von Rudolf Schasching, der auch hier wieder ein grossartiger, durch und durch vitaler Schauspieler ist. Sehr überzeugend, unter vielen anderen, auch Emily Magee als die verführerische Katerina, die zur Maria Magdalena wird.
Assonanzen

Mit dem Holzschnitthaften des Stücks umzugehen, ist nicht einfach; dem Regisseur Nicolas Brieger ist es, im Verein mit dem Bühnenbildner Hans-Dieter Schaal und dem Costumier Jorge Jara, besser gelungen als dem Dirigenten. Spielort ist die Drehbühne mit einer festgefügten, wenn auch gründlich aus dem Lot geratenen Hausfassade. Zu den beiden Seiten sind, wenn sie nicht singen, die Teilchöre der beiden Dorfgemeinschaften postiert, was den oratorischen Charakter des Stücks unterstreicht.

Ans epische Theater im Geiste Brechts und das Lehrstück erinnern dafür die schematischen Masken – Martinů wollte ja, doch davon scheint die Londoner Fassung mehr zu zeugen als die Zürcher Version, auf Distanz gehen zum psychologisierenden Ausgestalten von Figuren, vor dem Besonderen der Individualität stand für ihn das Allgemeine der menschlichen Existenz. Dass ihm das aber nur partiell gelungen ist, deutet die Inszenierung gleich am Anfang an, wo Bühnenschnee und Männerquartett von ferne an Puccinis «Bohème» anspielen. Eine ganz eigene Tragik liegt über Martinůs «Griechischer Passion», die im Opernhaus Zürich als «The Greek Passion» erscheint; und bei aller Schwierigkeit im Einzelnen kommt es hier zu einem Abend, der einen nicht unberührt entlässt.