Die Passionsgeschichte, Pharisäertum und Scheinmoral

Sibylle Ehrismann, Zürichsee-Zeitung (11.11.2008)

The Greek Passion, 09.11.2008, Zürich

Die Uraufführung von «The Greek Passion» von 1961 war ein Erfolg. Nun ist am Opernhaus Zürich eine gelungene Neuinszenierung zu erleben.

«The Greek Passion» erzählt die biblische Passionsgeschichte aus griechischer Sicht. In einem einfachen Dorf soll zu Ostern die Passionsgeschichte - die Demütigung Christi und seine Kreuzigung - als Dorftheater aufgeführt werden. Der altehrwürdige Priester Grigoris teilt jedem seine Rolle zu. Ausgerechnet der einfache Schafhirte Manolios soll Christus spielen. Plötzlich wird diese Dorfidylle durch Flüchtlinge gestört, deren Dorf von den Türken zerstört wurde. Angeführt werden sie von ihrem Priester, der Grigoris und die Dorfbewohner um Hilfe und Schutz bittet - vergeblich. Die Flüchtlinge werden als «Ruhestörer» hart abgewiesen. Vor diesem Hintergrund gewinnen die christlichen Rollen, welche die Dorfbewohner spielen sollen, eine neue Bedeutung.
Die jetzige Zürcher Neuproduktion geht von der deutschsprachigen Neufassung des von Martinu für die Londoner Royal Opera in englischer Sprache komponierten Werkes aus. Gespielt wird allerdings in der Originalsprache Englisch. Aus heutiger Sicht wirkt das englische Libretto in Bezug auf die tschechische Musik auf sinnige Art «befremdlich». Englisch war die Sprache der Exilanten im Zweiten Weltkrieg.

Mit viel Pathos

Martinu selbst hat das Libretto nach dem Roman «Christ recrucified» des griechischen Erfolgsautors Nikos Kazantzakis verfasst. Die Dialoge sind betont bedeutungsschwer - so würde kein einfacher Mensch sprechen oder singen. Zwar ist diese moral(pathet)ische Sprache aus der politisch schwierigen Entstehungszeit heraus verständlich. Doch heute flachen diese stets überhöhten Dialoge dramaturgisch bald ab.
Kein Wunder, dass angesichts einer solchen «Moralpredigt» im Zürcher Opernhaus die teuersten Premierenplätze schlecht besetzt waren. Die Abwesenden verpassten allerdings eine musikalisch hochstehende, szenisch interessante Aufführung von suggestiver Qualität. Die Erwartungen waren schon deshalb gross, weil der renommierte Regisseur Nicolas Brieger erstmals in Zürich inszeniert. Kommt dazu, dass der junge vielversprechende Dirigent Eivind Gullberg Jensen, der in Zürich mit dem Ballett «Peer Gynt» debütierte, nun ebenfalls zum ersten Mal in Zürich eine Oper im grossen Haus dirigierte. Beiden «Neulingen» im Zürcher Opernhaus kann man zu dieser gelungenen Martinu-Produktion nur gratulieren.

Regisseur Brieger hat mit seinem Bühnenbildner Hans-Dieter Schaal ein drehbares Einheitsbühnenbild geschaffen. Mitten auf der Bühne stehen als aufgeklappte Bibel zwei grosse rechteckige schwarze Wände, schief in den Boden gerammt. Anstelle eines Textes sieht man leuchtende Ikonen mit kirchlichen Sujets.

Die Stützen der Bibel

Ein Teil der Passionsgeschichte spielt in diesem offenen Kirchen-/Dorfraum, der andere hinter den Kulissen, vor den weissen «Buchdeckeln». Die als Stützen eingesetzten querverstrebten Balken sind auf unterschiedliche Art und Weise bespielbar: Die Flüchtlinge quälen sich erschöpft über diese Balken, der Schafhirt Manolios wird von den Dorfbewohnern wegen seiner Identifikation mit Christus gekreuzigt. Die Balken-Konstruktion ergibt von der Lichtgestaltung her (Jürgen Hoffmann) faszinierende Licht- und Schattenspiele.

So interessant die vielschichtige Drehbühne ist, mit der Zeit wirkt sie in ihrer erdrückenden Dunkelheit und Schwere etwas monoton. So lässt sich zum Beispiel die von Manolios geträumte «Liebessehnsucht» im dritten Akt auf den Balken nur bedingt umsetzen. Hier wünscht man sich einen «sich öffnenden warmen Raum», wie das die Musik suggeriert. Dafür hat der gross besetzte Opernchor, der auch musikalisch eine tragende Rolle spielt, um diese Drehbühne herum viel Platz. Jürg Hämmeli und Ernst Raffelsberger haben die dramatisch gesteigerten Chorpartien, die auch intonatorisch heikel sind, ausgezeichnet vorbereitet. Entsprechend ausgewogen tritt der Opernchor auf. Diese musikalische Leistung ist aber auch das grosse Verdienst des erst 28jährigen Dirigenten Eivind Gullberg Jensen. Gerade die komplexe rhythmische Komponente in Martinus Musik gelang ihm mit bewundernswerter Intuition. Besonders die langsame und immer intensiver werdende Steigerung bis zur Ermordung Manolios - ein kompositorisches Meisterwerk - gestaltete er grandios. Ohne den langsamen Puls zu verlieren, vermochte Jensen diese Intensität mit innerer Ruhe und grosser agogischer Freiheit umzusetzen - hinreissend.
Unter Jensens Ägide gelang dem Zürcher Sängerensemble eine mehr als beachtliche Leistung. Allen voran Alfred Muff, der als mächtiger Grigoris seine unendliche Tiefe voll auszuspielen vermochte. Als sein Gegenspieler bringt Pavel Daniluk als Priester Fotis eine geschmeidige und warm timbrierte Bassstimme mit. Herrlich auch der Schauspieler Gottfried Breitfuss, der in seiner Sprechrolle als Geizhals Lada bösartig närrisch auftrat.

Emily Magee, die Dorfhure Katerina, die in der Passion die Rolle der Maria Magdalena spielte, sang bewundernswert farbenreich und differenziert im Ausdruck. Die junge Sopranistin Stefanie C. Braun vom Opernstudio spielte als Verlobte Manolios zwar gut, presste in der «exaltierten» hohen Lage aber etwas zu stark. Darüber hinaus wurden auch die Nebenrollen allesamt profiliert gesungen und gespielt. Das Premieren-Publikum war begeistert und spendete allen Beteiligten starken Applaus.