Passionsgeschichte neu erzählt

Oliver Schneider, DrehPunktKultur (10.11.2008)

The Greek Passion, 09.11.2008, Zürich

Mehr als eine Ehrenrettung von Bohuslav Martinus 1961 in Zürich uraufgeführten Oper "The Greek Passion".

2009 jährt sich der Todestag des in Tschechien geborenen Komponisten Bohuslav Martinu zum 50. Mal. Nach seiner Flucht aus der vom Einmarsch des nationalsozialistischen Deutschland bedrohten Heimat emigrierte Martinu in die USA. Das Opernhaus Zürich startete die Feierlichkeiten zum 50. Todestag bereits am Sonntagabend mit einer Neuinszenierung seiner Oper „The Greek Passion“, die auch 1961 in Zürich uraufgeführt wurde, nachdem sich Covent Garden im letzten Moment zurückgezogen hatte.

Während sich das kleine griechische Dorf Lycovrissi bei Schneefall auf das im kommenden Jahr stattfindende Passionsspiel vorbereitet, gelangt ein Tross flüchtender Landsleute ins Dorf, die von den Türken aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. Angeführt von dem fanatischen Popen Grigoris (stimmgewaltig Alfred Muff) verwehren die Dorfbewohner den Vertriebenen aus Angst, teilen zu müssen, sich bei ihnen niederzulassen. Alle Bemühungen des Schäfers Manolios, seine Landsleute umzustimmen, sind fruchtlos. Dabei schlüpft Manolios in die Rolle eines modernen Jesus.

„The Greek Passion“ ist eine aktualisierte Passionsgeschichte, die Regisseur Nicolas Brieger auch ohne Umdeutungen erzählt. Das Weiss der Rückwand der schiefen Häuserfassade in der Mitte der Drehbühne, die Ikonenausschnitte in den Fenstern und die Apostel- und Christus-Ikonensilhouetten zu Beginn, als Grigoris die Rollen im Passionsspiel verteilt, im ansonsten schwarzen Raum deuten den Handlungsort an (Bühnenbild: Hans-Dieter Schaal, Kostüme: Jorge Jara).

Brieger setzt auf eine genaue Personen- und Chorführung (choreographische Unterstützung: Beate Vollack) und arbeitet Details minutiös heraus. Wenn der Postbote Yannakos, der in der Passion den Petrus übernimmt (mit heldischem Aplomb Rudolf Schasching), seinem Esel davon erzählt, dass er im Passionsspiel Jesus nach Jerusalem tragen wird, wird der Esel auf die Rückwand des Hauses projiziert. Als die Dorfhure Katerina alias Maria Magdalena (Emily Magee mit voluminösem und leuchtendem Sopran) den Flüchtlingen ihr Schaf schenken will, wird dieses in einer Öffnung der Rückwand sichtbar.
Das Werk trägt oratorische Züge, denn eine innere Entwicklung macht einzig Manolios (Roberto Saccà) durch, der immer mehr in die Rolle des Märtyrers hineinwächst, was der Regisseur aber nicht nur positiv deutet. Denn wenn Manolios die Dorfbewohner durch das Mikrofon zur Unterstützung der Flüchtlinge aufruft und schliesslich einen Aufruhr gegen die Dorfältesten schüren will, nimmt er immer mehr die Züge eines fanatischen Sektenpredigers an. Saccà gibt mit dieser Rolle einen eindrücklichen Beweis seiner darstellerischen und vor allem seiner sängerischen Entwicklung zum jugendlichen Heldenfach hin, die er mit Bacchus und Florestan bereits eingeleitet hat.

Nachdem Grigoris Manolios exkommuniziert hat, stürzt sich Panait (grossartig in dieser Charakterrolle Volker Vogel) auf ihn, tötet und kreuzigt ihn. Mit fratzenartigen Masken stehen sich die Dorfbewohner und die Flüchtlinge wie an einer imaginären Linie gespiegelt gegenüber, preisen Gott und flehen ihn um Hilfe an. Brieger misstraut diesem scheinbaren Frieden. Das Kyrie eleison stimmen deshalb nur noch die Flüchtlinge an, die durch die Menge der Dorfbewohner schreiten und das Dorf wieder verlassen. Ein wenig versöhnlicher Abschluss, in dem der von Jürg Hämmerli und Ernst Raffelsberger einstudierte Chor einen eindrücklichen Schlusspunkt setzt.

Nicolas Brieger und Dirigent Eivind Gullberg Jensen wählten die zweite, für die Zürcher Uraufführung geschaffene Fassung, einzelne Elemente der Urfassung werden ergänzt, um das Profil der Personen zu schärfen. Der Entscheid ist insofern bedauerlich, als der musikalisch kompromisslosere und sprödere Ton der Londoner Fassung den Gehalt des Werks akzentuieren würde, der durch die eingängigen orchestralen Zwischenspiele abgefedert wird. Aber möglicherweise lässt sich das auf dem Roman „Christ recrucified“ von Nikolas Kazantzakis beruhende Werk so leichter bleibend für die Bühne gewinnen.

Kleine Abstriche sind bei der musikalischen Seite des Abends zu machen. Eivind Gullberg Jensen, einer der Senkrechtstarter in der jungen Dirigentengeneration, vermag bei seinem Zürcher Operndebüt nur bedingt zu überzeugen. Zu einförmig laut klingt es aus dem Graben. Zu wenig stark arbeitet der norwegische Dirigent die dynamischen Kontraste der kammermusikalisch durchsichtigen Momente und der massiven Tutti-Passagen heraus.

Alles in allem darf das Zürcher Opernhaus aber diese Neuinszenierung als grossen Erfolg verbuchen. Welches Datum hätte sich im Übrigen besser für die Premiere einer Oper um zurückgewiesene Flüchtlinge geeignet als der 70. Gedenktag an die Grauen der Reichskristallnacht 1938 im Deutschen Reich?