Der Weltbürger und die Flüchtlinge

Hans-Klaus Jungheinrich, Frankfurter Rundschau (11.11.2008)

The Greek Passion, 09.11.2008, Zürich

Bohuslav Martinu, der vierte Klassiker unter den tschechischen Komponisten, war als erster von ihnen ein konsequenter Weltbürger. In späteren Jahren aber - infolge der deutschen Okkupation seines Landes, danach der stalinistischen Machtergreifung - kein freiwilliger.

Er starb 1959 in der Schweiz; 1961 wurde seine Oper "Griechische Passion" in Zürich uraufgeführt. Einige Schweizer Theater ehren Martinu demnächst mit Neuinszenierungen. Die Zürcher Oper frischt nun die Erinnerung an die "Passion" auf.

Zu deren Entstehungszeit, also in den späten fünfziger Jahren, loderte gerade der ästhetische Kampf um den Serialismus, der als maßgebliche Entwicklungsschneise des kompositorischen Materials propagiert (oder verteufelt) wurde.

Fortschritt und Traditionalismus ließen sich bequem abwägen am Emanzipationsgrad der Dissonanz. Martinus Tonsprache musste vor diesem Hintergrund antiquiert wirken. Zu diesem Verdikt kam damals Carl Dahlhaus in seiner Rezension, in der er der Musik bescheinigte, in ihr repräsentiere "die Konsonanz das gute, die Dissonanz das böse Prinzip".

Die Beobachtung, dass Martinus Festhalten an der Tonalität keine "umfassende(n) hypotaktisch gegliederten Formen" hervorbringe, sondern solche, die "aus beziehungslosen Stücken äußerlich zusammengesetzt" seien, lässt sich freilich auch positiv deuten: als Verweis auf Montagetechniken, die Martinu im Umkreis der französischen Surrealisten kennenlernte, denen seine bedeutendste Oper "Julietta" nahesteht.

Martinus "Griechische Passion" rangiert sicher nicht unter den musiktheatralischen Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts. Dennoch kann man ihr Pathos, ihre befeuerte Humanität, ihre melodiesüchtige Tonalitäts-Nostalgie inzwischen mit größerer Gelassenheit akzeptieren.

Dogmatische Einlassungen wie die von Dahlhaus verkennen vor allem die utopische Rolle, die das "verlorene" Idiom der tschechischen Volksmusik hier spielt, so die "mährische Kadenz", eine auch von Janácek auffällig benutzte harmonische Wendung.

Martinus burschikose Naivität verbündete sich mit einem Romanstoff von Nikos Kazantzakis, der zwischen Volksepos und Kolportage schillert. In ein leidlich wohlhabendes griechisches Dorf dringt ein Flüchtlingsheer ein: aus Anatolien von den jungtürkischen Nationalisten vertriebene Landsleute.

Eine Minderheit der Eingesessenen ist zur Hilfe bereit; die Mehrheit unter Führung des Priesters verweigern sie. Der christushafte Schäfer Manolios, provokantester Exponent der Selbstlosigkeit, wird exkommuniziert und ermordet. Die Flüchtlinge ziehen weiter.

Kazantzakis schätzte die häretischen Blicke auf das Christentum und blieb dabei aber selbst ein wenig Mystagoge. Die Bezeichnung "Passion" schnitzte er nach zwei Richtungen passend: als Themenfolie für das Leid der Vertriebenen und als Anknüpfung an den Brauch der dörflichen Passionsspiele, die hier für die das Drama symbolisierenden Umbildungen der entscheidenden Personencharaktere sorgen.

Die Darsteller von Christus und Maria Magdalena verlieren mehr und mehr ihre weltlichen (auch sexuellen) Bedürfnisse und geraten zu Heiligen. Folgerichtig wird der Passionsspiel-Judas zum wirklichen Mörder von Manolios/Jesus.

Der Weg der Einzelpersonen entbehrt nicht der Schemenhaftigkeit, ja der Devotionalien-Erbaulichkeit. Durchweg packend sind aber die Konfrontationen der chorischen Kollektive, von den stämmigen Osterchorälen am Anfang bis zu den vagierenden, ins Offene, Leere, Ungewisse sich aufmachenden Flüchtlingsgesängen am Schluss.

Im oratorienhaften Chorduktus versucht Martinu am eindringlichsten, den Gestus des Mitleids zu vermitteln, der den Stoff der "Griechischen Passion" auch nach einem halben Jahrhundert noch unvermindert aktuell erscheinen lässt.

Die Zürcher Neuinszenierung von Nikolas Brieger folgte dem zumeist salomonischen Rezept, das Beste aus zwei verschiedenen Werkfassungen zusammenzuführen. Beibehalten wurde die englische Originalsprache (die Uraufführung war für Covent Garden geplant).

Hans Dieter Schaal baute auf der Drehbühne ein monumental aufschlagenes Buch, zugleich Ikonenwand ; auf der Rückseite eine Balkenkonstruktion, dienlich vor allem für die intimen Szenen (wie Manolios' Traum am Anfang des 3. Aktes, eine der anrührendsten Passagen des Stückes).

Mit einer entwickelten Bühnensprache (und atmosphärischem Flair bis hin zu den geisterhaften Hochzeitstänzen) blieb Briegers Regie doch um einige Nuancen zu routiniert, um dem Stück neue Lichter aufzustecken.

Große, tragende Stimmen in den Hauptrollen: Alfred Muff als bassmächtiger Priester, Roberto Saccà als tenoral eloquenter Manolios, Emily Magee als läuterungsfähige femme fatale Katerina. Lebhaft und kontrastreich agierten Chöre und Orchester unter der Leitung des jungen Norwegers Eivind Gullberg Jensen.