Erinnerungsorte, Echokammern, Seelenräume

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (12.12.2008)

Tristan und Isolde, 10.12.2008, Zürich

«Tristan und Isolde» von Richard Wagner im Opernhaus Zürich

Tristan und Isolde sollen sich also doch in Zürich begegnet sein. Nicht auf einem Schiff, obwohl vom Wind und von den geblähten Segeln die Rede ist; nicht auf einem Königsschloss in Cornwall und auch nicht auf Kareol, wie sich die verfallene Burg des Titelhelden in der Bretagne nennt. Sondern in den Gemächern der Villa Wesendonck im Zürcher Enge-Quartier, in denen Richard Wagner mit den Blättern zu «Tristan und Isolde» in der Hand sozusagen ein und aus gegangen ist. Wenigstens, solange Herr Wesendonck auf Geschäftsreise war.

Eine Handlung?

Prächtig das gründerzeitliche Schlafgemach mit seinem ausladenden Bett, den bordeauxroten Seidentapeten, der weissen Flügeltür in der Mitte, dem hohen Fenster mit den kleinen Einteilungen und dem ein wenig an den «Rosenkavalier» erinnernden Schminktischchen. Christian Schmidt hat es für die jüngste Inszenierung von Wagners «Tristan» auf die Bühne des Opernhauses Zürich gestellt – und gleich noch ein zweites in spiegelbildlicher Anordnung dazugefügt. Dazwischen, so lässt es die Drehbühne sehen, jenes Treibhaus mit den hochgewölbten Blätterkronen, den Kindern aus den fernen Zonen, die weit in sehnendem Verlangen ihre Arme ausbreiten – wie es Mathilde Wesendonck zu Papier gebracht und Richard Wagner in den «Wesendonck-Liedern» komponiert hat. Das Programmheft schafft dann die Gewissheit, dass man für den ersten Aufzug tatsächlich in die Räumlichkeiten der Villa Wesendonck blickt.

Da schliesst der Regisseur Claus Guth vielleicht etwas direkt an seiner vorletzten Arbeit für das Opernhaus Zürich an, der ausnehmend gelungenen Inszenierung von Richard Strauss' «Ariadne auf Naxos», deren zweiten Teil er in der Zürcher Kronenhalle spielen liess. Indessen hat die szenische Disposition – die übrigens bis hin in die Kostüme sehr genau durchgespielt wird – den Vorteil, dass sie den Kern von «Tristan und Isolde» genauer herausarbeitet als eine Produktion, die textgetreu mit Schiffsbug und Planken operiert. «Handlung» nennt Wagner sein Stück, und er meint damit «innere Handlung». Alles Imagination, glühende Sehnsucht, ein Fiebertraum. Und die Drehbühne, sehr beweglich genutzt, wird hier zum Erinnerungsort, zur Echokammer und zum Seelenraum.

Zur Projektionsfläche auch. In der Villa Wesendonck (und vielleicht mehr noch im daneben gelegenen «Asyl») hat Wagner seinen Urwunsch durchgeträumt, von einer Frau bis zur Todesbereitschaft begehrt zu werden. Von diesem Begehren berichtet Nina Stemme, die im ersten Aufzug eine unglaublich drängende, ja wilde Isolde gibt – und da der Raum des Zürcher Opernhauses relativ klein ist und die Bühnenarchitektur die Abstrahlung vielfach unterstützt, kann sie ihre warme, farbenreiche und nuanciert eingesetzte Stimme ohne Anstrengung zu ihrer Fülle kommen lassen. Dabei wird, wie es bei Claus Guth und Christian Schmidt eigentlich stets der Fall ist, mit dem psychologischen Silberstift gearbeitet. Brangäne – das deutet schon das Kostüm an, das gleich geschnitten ist wie jenes Isoldes, das lässt Michelle Breedt mit ihrem vergleichsweise hellen, geschmeidigen Ton vor allem aber hören – ist weder Amme noch Bedienstete, sondern eher Schwester; ganz und gar eigenverantwortlich trägt sie das falsche, nämlich das richtige Fläschchen mit dem Liebestrank herein.

Viel zu beobachten und zu deuten gibt es also – und viel zu verstehen. Wie es sein Lehrmeister Michael Gielen beim legendären Frankfurter «Ring» der achtziger Jahre vorgeführt hat, lässt Ingo Metzmacher das Orchester der Oper Zürich in aller Farbenpracht aufrauschen, um es im entscheidenden Moment zurückzunehmen und dem Text den Vortritt zu lassen. Dazu kommt des Dirigenten Genauigkeit im Umgang mit der Partitur. Die erste Generalpause im Vorspiel ist ausnehmend lang: so lang eben, wie sie sein muss. Und im Klang des Orchesters dominieren nicht die Streicher, die das Geschehen gerne verdecken, der Akzent liegt eher bei den Bläsern, und dort werden Nebenstimmen als Kontrapunkte zu den vokalen Linien ans Licht geholt. Zusammen mit der ganz eigenen Wärme, die Metzmacher zu erzielen versteht und die im Zürcher Graben hervorragend umgesetzt wird, sowie der profilierten rhythmischen Gestaltung ergibt das durchs Band spannende Hörerlebnisse. Anders als Daniele Gatti eben erst in der Mailänder Scala wurde der Maestro an der Premiere nach Massen gefeiert.

Und wenn dann noch ein Sänger wie Martin Gantner mit von der Partie ist, wird der Textbezug nochmals unterstrichen. «Darf ich die Antwort sagen?», die Frage Kurwenals im ersten Aufzug klingt fast wie Sprechgesang, und das Zwiegespräch zu Beginn des dritten Aufzugs zwischen dem Herrn und seinem Knappen, der mit seiner Brille so gar nicht nach Knappe aussieht, ist wirklich ein Gespräch. Bevor es so weit ist, kommt es aber erst noch zur entscheidenden Begegnung zwischen Tristan und Isolde. Sie findet gleichsam vor aller Augen statt, in den Salons der Villa Wesendonck und im Rahmen einer gepflegten Abendgesellschaft, die nach der Art der im 19. Jahrhundert so beliebten tableaux vivants nachgestellt wird. Später zieht man sich zurück, und wenn dann die Nacht der Liebe herniedersinkt, lösen sich die Grenzen zwischen Innen und Aussen auf der Bühne ebenso wunderbar auf wie im Text jene zwischen Ich und Du. Die Konfrontation zwischen Marke beziehungsweise Wesendonck, den Alfred Muff erst etwas beiläufig, später aber mit grosser Intensität gibt, findet schliesslich beim Cognac im Herrenzimmer statt, und dort läuft, das ist die heute übliche Deutung, Tristan aus eigenem Antrieb ins Messer von Melot (Volker Vogel).

Tod und Verklärung

Im dritten Akt schlägt endlich die Stunde Tristans, und das geht auch in dieser neuerlichen Zürcher Produktion nicht ganz ohne Mühsal ab. Zuvor darf man sich aber noch am Vorspiel erfreuen, denn Ingo Metzmacher öffnet den tiefen Instrumenten weite Räume, setzt aber auch hier eher auf Zeichnung als auf narkotisierenden Klang – hinreissend, wie das Opernorchester das darbietet. Die lange Agonie des Helden spielt draussen vor der Tür, doch in seinem Inneren, wo die Fieber wüten, wie auch vor dem Publikum ziehen dank der Drehbühne noch einmal die Räume des Geschehens vorbei – das altbekannte Problem, das sich aus der Verbindung zwischen Wagners Ausführlichkeit und der szenischen Bewegungslosigkeit ergibt, ist damit meisterlich gelöst. Warum dann aber die Mauerschau zur Ankunft von Isoldes Schiff so konventionell gelöst ist und der Darsteller des Tristan so umständlich an der Brust herumnesteln muss, bis er eine Hand voll Theaterblut hervorzaubert, bleibt ein Rätsel. Auch nicht über jeden Zweifel erhaben ist Ian Storey als Tristan. Der vielgefragte britische Tenor mit seinem Zug ins Baritonale bewältigt die gewaltige Partie mehr als anständig – und bleibt doch einen letzten Rest an stimmlicher Unmittelbarkeit und darstellerischer Präsenz schuldig. Im berückenden Liebestod lässt Nina Stemme das aber gleich ganz und gar vergessen.