Der wirkliche Ort einer Liebe

Hans-Klaus Jungheinrich, Frankfurter Rundschau (12.12.2008)

Tristan und Isolde, 10.12.2008, Zürich

Klar, die Geschichte spielt in der Villa Wesendonck. Im Nebel der Rezeptionsgeschichte versinken Meer und Schiff und die atlantischen Schauplätze Irland, Cornwall und Kareol und der ganze Mittelalterkram sowieso. Realer Ort ist das großbürgerliche Zürich. Die Personen im leidvollen Liebesdreieck: Der reiche, väterlich-autoritative Otto Wesendonck; seine junge, schwärmerische Frau Mathilde; der nicht mehr ganz junge Hausfreund Richard Wagner, der es endlich wissen will: Auf der Suche nach der ultimativen Liebe und dem von ihm zu erschaffenden Jahrhundert-Musikdrama. Das eine gewinnt und verliert sich im anderen. Aus dem entsagungsschwangeren Liebestraum generiert sich das reale Kunstwerk "Tristan und Isolde". Dieses feiert die Unbedingtheit eines todgeweihten Eros, der an den Bedingtheiten des wirklichen (bürgerlichen) Lebens scheiterte.

An der Oper Zürich holte der Regisseur Claus Guth Wagners exponiertes Drama also gleichsam nach Zürich zurück und band es auf so naheliegende wie diskrete Weise an den biographischen Moment seiner Entstehung. Mit gutem Grund konnte er auf epische Verkleidungen verzichten; das Meer kommt als Metapher von Erregung, Besänftigung ohnedies hinreichend in der Musik vor.

Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt machen die "historische" Villa zu einem Geisterhaus, das auch mit dunklen Gängen und versteckten Winkeln dank einer (vielleicht etwas allzu spendabel genutzten) Drehbühne den Blicken zugänglich ist. Bei Tristans im Stück erster Begegnung mit Isolde wird der Garten zum Topos des Einander-Findens im Ausweichen und Sich-Verstecken. Die Liebesszene im zweiten Akt verdichtet sich an einer langen gedeckten Tafel; atemberaubend hier der Kulminationspunkt, wenn die beiden Akteure mit einer geradezu gewaltsamen Geste das Geschirr beiseite räumen und auf der geleerten Fläche Platz für die "Vereinigung" entsteht (die, wie es sich für eine komplexe Kopf-Liebe gehört, unzeigbar bleibt). Am kühnsten in diesem Mittelakt aber die nächtliche Ankunft Tristans bei Isolde: inmitten einer manchmal wie stehkaderartig eingefrorenen Menge festlicher Gäste, den lebendigen Hindernis-Kulissen für eine Zweierbeziehung. Ein Phantasma zwischen objektiven Zwängen.

In den Konvulsionen des Mittelaktes erreicht das Haus, auch Bildraum mentaler Irrungen und Wirrungen, seine größte, oft beklemmende Wirkung. Im dritten Akt, der quälend langen Wartestrecke hin zur "Erlösung" (der der Schopenhauerianer Wagner, anders als Verdi, nicht den Balsam eines Liebestodduetts gönnt), wird die Spannung nicht ganz durchgehalten; erinnerungsselige Hauserkundungen muten hier fast als szenisch allzu versierte Verlegenheits-Belebung an. Ingeniös immerhin der Beginn mit dem vor nun abgeblätterter Hauswand hockenden Kurwenal, biertrinkend und schon angeheitert, sich die Zeit vertreibend mit dem Werfen von Papierkügelchen.

Ganz deutlich ist zu betonen: eine groß und reich imaginierte, in vielen Einzelzügen der Personendarstellung kluge, intensiv ausgearbeitete Inszenierung. Wie immer schien Guth seine spannende Bühnenerzählung auch aus der Personalität der Sängerdarsteller heraus zu entwickeln. Ein nie so gesehenes, äußerst plausibles Detail: Isolde und Brangäne wirkten (vor allem im Kopfakt) gleich angezogen und fast verwechselbar in Figur und sogar Stimme wie eine gedoppelte, gespaltene Isolde. Michelle Breedt (Brangäne) hatte mit ihrem dunkel-samtigen Organ den gleichsam sordinierteren Impetus, den Nina Stemmes Isolde mit ähnlich warm-lyrischem Timbre, aber ausfahrenderen, exaltierteren Tönungen (bei den Forte-Spitzentönen leicht beengt) transzendierend ergänzte (ungefährdet entrückt der Schlussgesang).

Guth widerstand der banalisierenden Versuchung, Tristan in Wagnermaske zu präsentieren. Ian Storey war also ein jugendlicher Jedermann, befangen als Fremdling in der Bürgerwelt, verletzlich träumend in leiser Tongebung, zu erheblicher Strahlkraft geführt auch im finalen Sehnsuchts-Überschwang. Ungewöhnlich skurril, fast beckmesserisch quirlig der machtvoll seinen Bariton ausführende Kurwenal von Martin Gantner. Alfred Muff als Marke hatte zweimal gewonnen, weil er nicht im mittelalterlichen Königshabit steckte (Kostüme: Christian Schmidt). Seine große Otto-Wesendonck-Ansprache am Ende des Mittelaktes wurde zu einem Höhepunkt.

An dieser notorisch gefährlichen Langeweileklippe war der Dirigent Ingo Metzmacher ein die Gestaltungskraft des Sängers vehement unterstützender Partner. Metzmachers Sicht auf die Partitur schien oft betont "von oben", souverän gliedernd und großflächig formbewusst. Doch die liebevolle Versenkung ins Lyrische kam ebenso wenig zu kurz. Im aufgehellten, klar disponierten Klangbild akzentuierte Metzmacher den Doppelaspekt der Musik an der Nahtstelle zwischen Romantik und Moderne. Faszinierend.