In höchster Lust

Christine Lemke-Matwey, Tagesspiegel (12.12.2008)

Tristan und Isolde, 10.12.2008, Zürich

Das Gesamtkunstwerk Oper und die Stürme der Seele: Ingo Metzmacher dirigiert in Zürich einen grandiosen "Tristan".

Am Ende weiß man’s nicht mehr und will und kann und soll es gar nicht wissen: Ist das noch Theater? Musik? Ästhetik? Oder vielleicht doch schon Leben? Sprache, Klang aus „des Welt-Atems wehendem All“? Es ist also etwas dran an Richard Wagners hybrider Selbsteinschätzung, „vollständig gute“ Aufführungen seines „Tristan“ müssten die Leute „verrückt“ machen – und nur „mittelmäßige“ könnten ihn retten. Um die Ehrenrettung (s)eines bürgerlichen Kunstbegriffs aber geht es an diesem grandiosen Abend im Zürcher Opernhaus so wenig wie um den üblichen Regiediskurs oder die Frage, ob der berühmte „Tristan“-Akkord den Dirigenten nun mehr zum Zerlegen der Partitur aufruft oder zu deren Überschäumung und Überhitzung. Ingo Metzmacher hält hier übrigens recht fein die Waage.

Es geht um mehr. Es geht um die Sehnsucht nach der Sehnsucht, und wie eine idée fixe die ganze Welt ver-rückt. Es geht um die Liebe, und dass diese längst kein Objekt, kein Du mehr braucht, um Erfüllung zu finden. Es geht um Psychoanalyse, Tod und Traumata, um multiple Persönlichkeiten und darum, dass alles, was das Gesamtkunstwerk Oper an Affekten so gegeneinander in Stellung bringt, zuallererst in unserem Inneren sich streitet. So gipfelt die Liebesnacht in Zürich in einem biedermeierlichen Ehe-Idyll und der Liebestod in einer Auferstehungsfantasie. „Tristan“ in Tribschen, am Ort des Geschehens, in jener schönen Villa am Vierwaldstättersee nämlich, wo Richard Wagner sich mit der Fabrikantengattin Mathilde Wesendonck einst in eine (fast) bedingungslose Affäre stürzte. „Tristan“ im Salon, ganz ohne Meer und Schiff und liebeslüsternes Gartengrün.

Lange vor Strauss’ „Elektra“-Einakter von 1909 („Ob ich sie nicht höre? Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir ...“) weiß 1865 also Wagners Isolde um diese Dinge. Und Claus Guth, der mittlerweile Wagner erfahrene Regisseur („Fliegender Holländer“ in Bayreuth, der „Ring“ in Hamburg), und sein Bühnenbildner Christian Schmidt wissen darum und ziehen klug die Konsequenzen. Merkwürdig eigentlich, dass auf diese Übersetzung von Kunst in mentale Biografie, von Biografie in Kunst vor ihnen noch niemand gestoßen ist.

Eine Drehbühne zeigt die Räume der Villa und des Geschehens: Isoldes Brautgemach, eine Art Wintergarten mit hässlichen Topfpflanzen für die erste Begegnung mit Tristan, dem Brautführer, einen Saal für die Ankunft bei König Marke, dem Bräutigam. Vor den Türen dieses Saals und drinnen, an einer prächtigen Tafel, spielt auch der zweite Akt, die Liebesnacht der beiden einander in Liebestrank und Laune Verfallenen, Zufallenden; und im dritten dann dient eben jene Tafel dem sterbenswunden Helden als Totenbahre. Am schönsten vielleicht: Der Beginn der Liebeshandlung, wenn auf Tristan und Isolde, die ganz schlicht und unergriffen an einem Türrahmen lehnen, dunkles, rauschendes Blätterwerk projiziert wird. Fast meint man, der Duft und die Kühle der Nacht verströmten sich unterm Streicherweben bis ins Parkett und in die Ränge. Und dass die Räume bisweilen spiegelverkehrt wiederkehren oder Festtagstafeln zu Staub und Asche zerfallen, gehorcht nur der Logik, mit der diese fulminante Rechnung fünf Stunden lang aufgeht.

Was klar wird im intensiven Spiel der Sängerdarsteller (auch dank der Übertitelungsanlage, die sich nicht scheut, den Wagner’schen Text wiederzugeben): wie sehr sich die Liebenden an ihrer Vergangenheit abarbeiten und wie wenig sie dieser letztlich entfliehen können. Die Vorgeschichte um Isoldes Verlobten Morold, den Tristan tötet, um sich als Tantris von ihr, der „Ärztin“, seinerseits heilen zu lassen – all das steht den Handelnden wie ein Menetekel auf die Stirnen geschrieben. Folge (auch das zeigen Guth und Schmidt dezent) einer längst zu dämlichen Standbildern erstarrten Gesellschaft. Dass Isolde und Tristan zu Beginn des zweiten Aktes zwischen eben jenen Frack-Schranzen hin und herirren, um sich endlich zu finden, ist eine großartige Metapher für die verzweifelte Unmöglichkeit ihres Tuns, einander „so fern, so nah“.

Neben einem exquisiten Kurwenal (Martin Gantners Rollendebüt) findet sich in Zürich vor allem Brangäne aufgewertet. Statt der üblichen mumienhaften Vertrauten darf sie eine Art Zwillingsschwester zu Isolde sein, deren Alter ego und besseres Ich, mal Spiegelbild, mal Schattenfrau, mal Todesengel. In Michelle Breedts brennendem, betörendem „dir zu entsagen“ liegt die ganze Tragik dieser Figur, die doch auch liebt und lieben will und es nicht vermag. Ihre „Habet acht!“-Rufe gehören zum Saubersten, Ausgefeiltesten, was der Abend zu bieten hat, und überhaupt ist ein so schlank geführter, hell und jung timbrierter Mezzo natürlich ein starkes Argument für die genannte Seelenschwesternschaft. Stilistisch mag Alfred Muffs Marke dem entsprechen, etwas weniger Sprechgesang aber wäre sicher deutlich genug gewesen.

Nun ist das Zürcher Opernhaus ein kleines und böte in Sachen Wagner Gelegenheit für eine natürlich entfettete, entschlackte musikalische Ästhetik. Hier muss niemand brüllen. Mit Nina Stemme und Ian Storey in den Titelpartien wird diese Hoffnung leider früh enttäuscht. Stemme scheint sich in den vergangenen Jahren ans Hochdramatische regelrecht verschwendet zu haben: Viele Höhen klirren, und ein gesundes, dosiertes Piano will ihr bei aller Präsenz, allem wahnwitzigen Frauenfuror kaum gelingen. Storey wiederum, der die Partie zuletzt unter Barenboim an der Scala sang, gehört zu jenen Tenören, die über eine gewisse Kondition verfügen und über gewisse Töne auch, beides aber nur selten zu Gesang verbinden. Wie er eingangs des dritten Aktes als steinerner Gast vor Kareol hockt, seiner Burg, des Sterbens wie des Lebens müde, das greift gleichwohl ans Herz.

Auch Ingo Metzmacher befindet sich noch auf dem Weg zu „Tristan“. Was er will, teilt sich bei aller Dringlichkeit des Tons aus dem Graben nur manchmal mit (oder aber er vermag es dem Orchester des Opernhauses nicht recht zu sagen, immerhin stand er hier als Musikchef zur Wahl, was, wie es heißt, an den Musikern scheiterte): Ist es ihm um räumliche Effekte und eine harmonische Aufspreizung der Partitur zu tun? Das gelingt im Vorspiel wohl eindrücklich, versendet sich aber rasch wieder. Ist es das Intime, Kammermusikalische, wie in der „Hörnerschall“-Episode des zweiten Aktes, in der die Töne wie Luftblasen empor wirbeln und die Ventile der Bläser leise schmatzen? Davon hätte man gerne mehr. Oder sucht er analog zur Regie das Psychodrama und lässt die Streicher auf Kareol deshalb klingen wie eine Harfe aus tiefster Unterwelt?

Mag sein, die musikalische Lesart ist nicht konsistent, weil das Stück selbst es nicht ist. Am Schluss, nachdem Isolde sich in „höchster Lust“ über dem toten Tristan ausgegossen hat, nimmt Marke langsam seinen Hut. Brangäne folgt ihm, stocksteif, aber entschlossen. Die Wirklichkeit, sie gehört uns Unverrückten, Wagner-Süchtigen.